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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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IV. Fragment.
Viertes Fragment.
Ueber Jdeale der Alten; schöne Natur; Nachahmung.
(Fragment, wie's eins seyn kann!)

Daß die Kunst höheres, reineres, edleres noch nichts erfunden und ausgearbeitet hat, als die
alten griechischen Bildsäulen aus der besten Zeit -- kann vors erste als ausgemachte Wahrheit
angenommen bleiben! -- Nun entsteht die Frage: woher diese hohe, wie man sagt, überirrdische
Schönheit? .. Die Antwort ist zweyfach; entweder -- "die Künstler hatten höhere Jdeale! sie
"imaginirten sich vollkommenere Menschen! ihre Kunstwerke waren bloß neue Geschöpfe ihrer ed-
"lern Dichterkraft -- oder: sie hatten eine vollkommenere Natur um sich, und dadurch ward es
"ihnen möglich, ihre Jmagination so hoch zu stimmen -- und solche Bilder darzustellen." --

Die Einen also sehen diese Werke als neue Schöpfungen, die Andern bloß als dichteri-
sche Nachahmungen schönerer Natur an.

Jch bin von der letztern Meynung, und ich bin gewiß, wie ich's von einer Sache in der
Welt seyn kann, daß ich recht habe. Die Sache ist wichtig, und verdiente, von einem Gelehrten --
welches ich nicht bin, demonstrirt zu werden. Jch glaube: sie ist der Demonstration so fähig, als es
etwas seyn kann.

Nur so viel geb' ich der Ueberlegung aller denkenden anheim -- Ganz erschaffen kann
der Mensch überall nichts.
Es ist ewiges, eigenthümliches, unmittheilbares Vorrecht des
Wesens aller Wesen, "dem, das da nicht ist, zu rufen, als ob es sey!" -- Nachahmen ist des
Menschen ewiges Thun und Lassen; sein Leben und Weben; seine Natur und seine Kunst. Vom
Anfange seines Menschenlebens an bis an sein Ende ist alles, alles Nachahmung .. Das gemeinste
und das trefflichste, was er thut -- und wenn's noch so sehr sein Werk, Geschöpf seiner Hände,
und Gemächt seines Geistes zu seyn scheint. Kein Mensch erschafft sich eine Sprache. Alle
Sprache ist Nachahmung -- Kein Mensch erschafft sich eine Schrift. Alle Schrift ist Nachah-
mung -- kein Mensch erschafft ein Bild -- alle seine Bilder sind Nachahmungen.

Das
IV. Fragment.
Viertes Fragment.
Ueber Jdeale der Alten; ſchoͤne Natur; Nachahmung.
(Fragment, wie’s eins ſeyn kann!)

Daß die Kunſt hoͤheres, reineres, edleres noch nichts erfunden und ausgearbeitet hat, als die
alten griechiſchen Bildſaͤulen aus der beſten Zeit — kann vors erſte als ausgemachte Wahrheit
angenommen bleiben! — Nun entſteht die Frage: woher dieſe hohe, wie man ſagt, uͤberirrdiſche
Schoͤnheit? .. Die Antwort iſt zweyfach; entweder — „die Kuͤnſtler hatten hoͤhere Jdeale! ſie
„imaginirten ſich vollkommenere Menſchen! ihre Kunſtwerke waren bloß neue Geſchoͤpfe ihrer ed-
„lern Dichterkraft — oder: ſie hatten eine vollkommenere Natur um ſich, und dadurch ward es
„ihnen moͤglich, ihre Jmagination ſo hoch zu ſtimmen — und ſolche Bilder darzuſtellen.“ —

Die Einen alſo ſehen dieſe Werke als neue Schoͤpfungen, die Andern bloß als dichteri-
ſche Nachahmungen ſchoͤnerer Natur an.

Jch bin von der letztern Meynung, und ich bin gewiß, wie ich’s von einer Sache in der
Welt ſeyn kann, daß ich recht habe. Die Sache iſt wichtig, und verdiente, von einem Gelehrten —
welches ich nicht bin, demonſtrirt zu werden. Jch glaube: ſie iſt der Demonſtration ſo faͤhig, als es
etwas ſeyn kann.

Nur ſo viel geb’ ich der Ueberlegung aller denkenden anheim — Ganz erſchaffen kann
der Menſch uͤberall nichts.
Es iſt ewiges, eigenthuͤmliches, unmittheilbares Vorrecht des
Weſens aller Weſen, „dem, das da nicht iſt, zu rufen, als ob es ſey!“ — Nachahmen iſt des
Menſchen ewiges Thun und Laſſen; ſein Leben und Weben; ſeine Natur und ſeine Kunſt. Vom
Anfange ſeines Menſchenlebens an bis an ſein Ende iſt alles, alles Nachahmung .. Das gemeinſte
und das trefflichſte, was er thut — und wenn’s noch ſo ſehr ſein Werk, Geſchoͤpf ſeiner Haͤnde,
und Gemaͤcht ſeines Geiſtes zu ſeyn ſcheint. Kein Menſch erſchafft ſich eine Sprache. Alle
Sprache iſt Nachahmung — Kein Menſch erſchafft ſich eine Schrift. Alle Schrift iſt Nachah-
mung — kein Menſch erſchafft ein Bild — alle ſeine Bilder ſind Nachahmungen.

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[40/0058] IV. Fragment. Viertes Fragment. Ueber Jdeale der Alten; ſchoͤne Natur; Nachahmung. (Fragment, wie’s eins ſeyn kann!) Daß die Kunſt hoͤheres, reineres, edleres noch nichts erfunden und ausgearbeitet hat, als die alten griechiſchen Bildſaͤulen aus der beſten Zeit — kann vors erſte als ausgemachte Wahrheit angenommen bleiben! — Nun entſteht die Frage: woher dieſe hohe, wie man ſagt, uͤberirrdiſche Schoͤnheit? .. Die Antwort iſt zweyfach; entweder — „die Kuͤnſtler hatten hoͤhere Jdeale! ſie „imaginirten ſich vollkommenere Menſchen! ihre Kunſtwerke waren bloß neue Geſchoͤpfe ihrer ed- „lern Dichterkraft — oder: ſie hatten eine vollkommenere Natur um ſich, und dadurch ward es „ihnen moͤglich, ihre Jmagination ſo hoch zu ſtimmen — und ſolche Bilder darzuſtellen.“ — Die Einen alſo ſehen dieſe Werke als neue Schoͤpfungen, die Andern bloß als dichteri- ſche Nachahmungen ſchoͤnerer Natur an. Jch bin von der letztern Meynung, und ich bin gewiß, wie ich’s von einer Sache in der Welt ſeyn kann, daß ich recht habe. Die Sache iſt wichtig, und verdiente, von einem Gelehrten — welches ich nicht bin, demonſtrirt zu werden. Jch glaube: ſie iſt der Demonſtration ſo faͤhig, als es etwas ſeyn kann. Nur ſo viel geb’ ich der Ueberlegung aller denkenden anheim — Ganz erſchaffen kann der Menſch uͤberall nichts. Es iſt ewiges, eigenthuͤmliches, unmittheilbares Vorrecht des Weſens aller Weſen, „dem, das da nicht iſt, zu rufen, als ob es ſey!“ — Nachahmen iſt des Menſchen ewiges Thun und Laſſen; ſein Leben und Weben; ſeine Natur und ſeine Kunſt. Vom Anfange ſeines Menſchenlebens an bis an ſein Ende iſt alles, alles Nachahmung .. Das gemeinſte und das trefflichſte, was er thut — und wenn’s noch ſo ſehr ſein Werk, Geſchoͤpf ſeiner Haͤnde, und Gemaͤcht ſeines Geiſtes zu ſeyn ſcheint. Kein Menſch erſchafft ſich eine Sprache. Alle Sprache iſt Nachahmung — Kein Menſch erſchafft ſich eine Schrift. Alle Schrift iſt Nachah- mung — kein Menſch erſchafft ein Bild — alle ſeine Bilder ſind Nachahmungen. Das

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/58>, abgerufen am 18.12.2024.