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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Vermischte Porträte.
Der Gnad und Huld im scharfen Blick
Der großen Augen trägt. --
Gleim.

Bald -- "Leute, die's verstehen, sagen -- daß er das Zeichen eines großen Mannes
"im Auge -- (des Königs aber in seinen Gesichtszügen) trage."
Lichtenberg.

Jch habe dieß Auge lange und nahe angesehen ... Mehr treffend, als blendend! durch-
dringend, als blitzend! ... So wie's in unserm Bilde ist -- nicht ganz wahr .. Man sieht
mehr vom Weißen .. der Stern scheint daher so groß nicht .. dafür konzentrirter. Gewiß
kann so eine Form -- keinen schlechten Blick haben! Uebrigens hab' ich diesen berühmten Blick,
wenn ich so sagen darf, nicht in seinem Brennpunkte gesehen.

Des III. Ban-
des CIII.
Tafel. Fr.

Aber, man decke das Auge! ... man verbinde dem Physiognomisten die Au-
gen -- man erlaube ihm, mit dem bloßen Gefühle der äußersten Fingerspitze von der
Höhe der Stirne bis an das Ende der Nase sanft herabzuglitschen -- Neuntausend, neunhun-
dert, neun und neunzig vor ihm werden ihm vorgeführt -- Friedrich sey der Zehntausendste ...
und der Physiognomist wird niederfallen und ausrufen -- "Ein prädestinirter König -- oder --
"Welterschütterer! Ohne Thaten lebt der nicht -- so wenig als ohne Odem. Vordrang! hohes
"Selbstgefühl, das in Menschenverachtung ausarten muß, weil es seines gleichen nicht finden
"kann, und die Nächsten bey ihm -- vielleicht gerade die Kleinsten sind. --

Ja! Menschenverachtung -- Siehe, aus dieser mit der Nase Lineal -- gerade fortgehen-
den Stirne -- muß sie auf Wang und Lippe fließen.

Faltenreich, und kleingeädert ist des Königs Gesicht -- voller Entwürfe -- und durchein-
ander sich furchender Anschläge. --

Eine genaue Silhouette von diesem in seiner Klasse Einzigen Jndividuum würde das Auge
sehr wenig von dieser Verachtung sehen, und den Verstand sehr viel davon vermuthen lassen; daher

in
X x 3
Vermiſchte Portraͤte.
Der Gnad und Huld im ſcharfen Blick
Der großen Augen traͤgt. —
Gleim.

Bald — „Leute, die’s verſtehen, ſagen — daß er das Zeichen eines großen Mannes
„im Auge — (des Koͤnigs aber in ſeinen Geſichtszuͤgen) trage.“
Lichtenberg.

Jch habe dieß Auge lange und nahe angeſehen ... Mehr treffend, als blendend! durch-
dringend, als blitzend! ... So wie’s in unſerm Bilde iſt — nicht ganz wahr .. Man ſieht
mehr vom Weißen .. der Stern ſcheint daher ſo groß nicht .. dafuͤr konzentrirter. Gewiß
kann ſo eine Form — keinen ſchlechten Blick haben! Uebrigens hab’ ich dieſen beruͤhmten Blick,
wenn ich ſo ſagen darf, nicht in ſeinem Brennpunkte geſehen.

Des III. Ban-
des CIII.
Tafel. Fr.

Aber, man decke das Auge! ... man verbinde dem Phyſiognomiſten die Au-
gen — man erlaube ihm, mit dem bloßen Gefuͤhle der aͤußerſten Fingerſpitze von der
Hoͤhe der Stirne bis an das Ende der Naſe ſanft herabzuglitſchen — Neuntauſend, neunhun-
dert, neun und neunzig vor ihm werden ihm vorgefuͤhrt — Friedrich ſey der Zehntauſendſte ...
und der Phyſiognomiſt wird niederfallen und ausrufen — „Ein praͤdeſtinirter Koͤnig — oder —
„Welterſchuͤtterer! Ohne Thaten lebt der nicht — ſo wenig als ohne Odem. Vordrang! hohes
„Selbſtgefuͤhl, das in Menſchenverachtung ausarten muß, weil es ſeines gleichen nicht finden
„kann, und die Naͤchſten bey ihm — vielleicht gerade die Kleinſten ſind. —

Ja! Menſchenverachtung — Siehe, aus dieſer mit der Naſe Lineal — gerade fortgehen-
den Stirne — muß ſie auf Wang und Lippe fließen.

Faltenreich, und kleingeaͤdert iſt des Koͤnigs Geſicht — voller Entwuͤrfe — und durchein-
ander ſich furchender Anſchlaͤge. —

Eine genaue Silhouette von dieſem in ſeiner Klaſſe Einzigen Jndividuum wuͤrde das Auge
ſehr wenig von dieſer Verachtung ſehen, und den Verſtand ſehr viel davon vermuthen laſſen; daher

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[349/0569] Vermiſchte Portraͤte. Der Gnad und Huld im ſcharfen Blick Der großen Augen traͤgt. — Gleim. Bald — „Leute, die’s verſtehen, ſagen — daß er das Zeichen eines großen Mannes „im Auge — (des Koͤnigs aber in ſeinen Geſichtszuͤgen) trage.“ Lichtenberg. Jch habe dieß Auge lange und nahe angeſehen ... Mehr treffend, als blendend! durch- dringend, als blitzend! ... So wie’s in unſerm Bilde iſt — nicht ganz wahr .. Man ſieht mehr vom Weißen .. der Stern ſcheint daher ſo groß nicht .. dafuͤr konzentrirter. Gewiß kann ſo eine Form — keinen ſchlechten Blick haben! Uebrigens hab’ ich dieſen beruͤhmten Blick, wenn ich ſo ſagen darf, nicht in ſeinem Brennpunkte geſehen. Aber, man decke das Auge! ... man verbinde dem Phyſiognomiſten die Au- gen — man erlaube ihm, mit dem bloßen Gefuͤhle der aͤußerſten Fingerſpitze von der Hoͤhe der Stirne bis an das Ende der Naſe ſanft herabzuglitſchen — Neuntauſend, neunhun- dert, neun und neunzig vor ihm werden ihm vorgefuͤhrt — Friedrich ſey der Zehntauſendſte ... und der Phyſiognomiſt wird niederfallen und ausrufen — „Ein praͤdeſtinirter Koͤnig — oder — „Welterſchuͤtterer! Ohne Thaten lebt der nicht — ſo wenig als ohne Odem. Vordrang! hohes „Selbſtgefuͤhl, das in Menſchenverachtung ausarten muß, weil es ſeines gleichen nicht finden „kann, und die Naͤchſten bey ihm — vielleicht gerade die Kleinſten ſind. — Ja! Menſchenverachtung — Siehe, aus dieſer mit der Naſe Lineal — gerade fortgehen- den Stirne — muß ſie auf Wang und Lippe fließen. Faltenreich, und kleingeaͤdert iſt des Koͤnigs Geſicht — voller Entwuͤrfe — und durchein- ander ſich furchender Anſchlaͤge. — Eine genaue Silhouette von dieſem in ſeiner Klaſſe Einzigen Jndividuum wuͤrde das Auge ſehr wenig von dieſer Verachtung ſehen, und den Verſtand ſehr viel davon vermuthen laſſen; daher in X x 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/569>, abgerufen am 24.11.2024.