Die Nase um etwas zu lang, und kaum merklich abgeschliffen -- dadurch ver- lor sie nicht wenig von der Kraft der Natur -- Das Nasenloch ist im vordern Um- risse wahrer und charakteristischer, als hier. Doch auch hier noch die ganze Nase, so wie sie ist -- edel und fest. Je tiefer herab, desto mehr, oder vielmehr, desto merklicher verliert sich die Wahr- heit der Natur.
Die Leerheit der Wange -- die Unbestimmtheit des Mundes; der zu flache und gedehnte Umriß des Oberkinns -- hat für mein Aug' etwas fatales, das in der Natur nicht ist. Das Kinn scheint in der Natur noch vordringender und kräftiger.
Aber im Auge -- wie viel Seele ist drinn! Jn der Geradheit und Festigkeit des obern Augenlieds; in der Tiefe drüber; -- der Nähe der, obgleich schwachen, Augenbraune -- und dann in dem so bestimmten, so sichtbaren Stern selbst -- So ein Blick blickt durch! auf Einmal durch! zum erstenmal durch! So ein Auge, was es nicht im erstenmal sieht, wenn es sehen will -- wird es nachher schwerlich mehr erblicken.
Die ungewöhnliche Länge der Kinnlade -- woferne der Knochen nicht gleichsam durch- schien -- woferne sie wahr wäre -- schien eine Männlichkeit, die sich der Rohigkeit näherte, an- zuzeigen.
Aber nun noch ein ungeheurer Fehler dieses Gesichtes? und ein Fehler von der äußersten physiognomischen Wichtigkeit -- der Kopf ist hinten obenher zu abgeschliffen, zu schmal -- nicht gewölbt -- im Ausdrucke, nicht reich, nicht vielsassend, nicht offen.
Und nun, wenn's erlaubt ist -- noch einige Züge von dem Charakter des Urbildes beyzu- fügen -- aus welchen Kontrasten ist er zusammengesetzt! wie so leicht verführt er zu einseitigen, schrecklich falschen Urtheilen! ... Also Fragment seines wahren Charakters -- Kälte des To- des und verzehrendes Blitzfeuer -- in Einer Seele, Einem Gesichte. Heiterer Frühling und stürmendes Donnerwetter schnell auf einander -- Eisenfeste Härte mit der zärtlichsten Empfindsam- keit; Muth mit Muthlosigkeit; Heldenmäßige Dreistigkeit -- mit höflicher Unterwürfigkeit -- scheinbare Eitelkeit mit wahrer Bescheidenheit; beißende Satyre mit sanfter, schonender Herzens-
güte
U u 2
Vermiſchte Portraͤte.
Des III. Ban- des XCIX. Tafel. Z.
Die Naſe um etwas zu lang, und kaum merklich abgeſchliffen — dadurch ver- lor ſie nicht wenig von der Kraft der Natur — Das Naſenloch iſt im vordern Um- riſſe wahrer und charakteriſtiſcher, als hier. Doch auch hier noch die ganze Naſe, ſo wie ſie iſt — edel und feſt. Je tiefer herab, deſto mehr, oder vielmehr, deſto merklicher verliert ſich die Wahr- heit der Natur.
Die Leerheit der Wange — die Unbeſtimmtheit des Mundes; der zu flache und gedehnte Umriß des Oberkinns — hat fuͤr mein Aug’ etwas fatales, das in der Natur nicht iſt. Das Kinn ſcheint in der Natur noch vordringender und kraͤftiger.
Aber im Auge — wie viel Seele iſt drinn! Jn der Geradheit und Feſtigkeit des obern Augenlieds; in der Tiefe druͤber; — der Naͤhe der, obgleich ſchwachen, Augenbraune — und dann in dem ſo beſtimmten, ſo ſichtbaren Stern ſelbſt — So ein Blick blickt durch! auf Einmal durch! zum erſtenmal durch! So ein Auge, was es nicht im erſtenmal ſieht, wenn es ſehen will — wird es nachher ſchwerlich mehr erblicken.
Die ungewoͤhnliche Laͤnge der Kinnlade — woferne der Knochen nicht gleichſam durch- ſchien — woferne ſie wahr waͤre — ſchien eine Maͤnnlichkeit, die ſich der Rohigkeit naͤherte, an- zuzeigen.
Aber nun noch ein ungeheurer Fehler dieſes Geſichtes? und ein Fehler von der aͤußerſten phyſiognomiſchen Wichtigkeit — der Kopf iſt hinten obenher zu abgeſchliffen, zu ſchmal — nicht gewoͤlbt — im Ausdrucke, nicht reich, nicht vielſaſſend, nicht offen.
Und nun, wenn’s erlaubt iſt — noch einige Zuͤge von dem Charakter des Urbildes beyzu- fuͤgen — aus welchen Kontraſten iſt er zuſammengeſetzt! wie ſo leicht verfuͤhrt er zu einſeitigen, ſchrecklich falſchen Urtheilen! ... Alſo Fragment ſeines wahren Charakters — Kaͤlte des To- des und verzehrendes Blitzfeuer — in Einer Seele, Einem Geſichte. Heiterer Fruͤhling und ſtuͤrmendes Donnerwetter ſchnell auf einander — Eiſenfeſte Haͤrte mit der zaͤrtlichſten Empfindſam- keit; Muth mit Muthloſigkeit; Heldenmaͤßige Dreiſtigkeit — mit hoͤflicher Unterwuͤrfigkeit — ſcheinbare Eitelkeit mit wahrer Beſcheidenheit; beißende Satyre mit ſanfter, ſchonender Herzens-
guͤte
U u 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0553"n="339"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Vermiſchte Portraͤte.</hi></fw><lb/><noteplace="left">Des <hirendition="#aq">III.</hi> Ban-<lb/>
des <hirendition="#aq">XCIX.</hi><lb/>
Tafel. <hirendition="#aq">Z.</hi></note><p>Die <hirendition="#fr">Naſe</hi> um etwas zu lang, und kaum merklich abgeſchliffen — dadurch ver-<lb/>
lor ſie nicht wenig von der Kraft der Natur — Das Naſenloch iſt im vordern Um-<lb/>
riſſe wahrer und charakteriſtiſcher, als hier. Doch auch hier noch die ganze Naſe, ſo wie ſie iſt —<lb/>
edel und feſt. Je tiefer herab, deſto mehr, oder vielmehr, deſto merklicher verliert ſich die Wahr-<lb/>
heit der Natur.</p><lb/><p>Die Leerheit der Wange — die Unbeſtimmtheit des Mundes; der zu flache und gedehnte<lb/>
Umriß des Oberkinns — hat fuͤr mein Aug’ etwas fatales, das in der Natur nicht iſt. Das Kinn<lb/>ſcheint in der Natur noch vordringender und kraͤftiger.</p><lb/><p>Aber im <hirendition="#fr">Auge</hi>— wie viel Seele iſt drinn! Jn der Geradheit und Feſtigkeit des obern<lb/>
Augenlieds; in der Tiefe druͤber; — der Naͤhe der, obgleich ſchwachen, Augenbraune — und<lb/>
dann in dem ſo beſtimmten, ſo ſichtbaren Stern ſelbſt — So ein Blick blickt durch! auf Einmal<lb/>
durch! zum erſtenmal durch! So ein Auge, was es nicht im erſtenmal ſieht, wenn es ſehen will —<lb/>
wird es nachher ſchwerlich mehr erblicken.</p><lb/><p>Die ungewoͤhnliche Laͤnge der Kinnlade — woferne der Knochen nicht gleichſam durch-<lb/>ſchien — woferne ſie wahr waͤre —ſchien eine Maͤnnlichkeit, die ſich der Rohigkeit naͤherte, an-<lb/>
zuzeigen.</p><lb/><p>Aber nun noch ein ungeheurer Fehler dieſes Geſichtes? und ein Fehler von der aͤußerſten<lb/>
phyſiognomiſchen Wichtigkeit — der Kopf iſt hinten obenher zu abgeſchliffen, zu ſchmal — nicht<lb/>
gewoͤlbt — im Ausdrucke, nicht reich, nicht vielſaſſend, nicht offen.</p><lb/><p>Und nun, wenn’s erlaubt iſt — noch einige Zuͤge von dem Charakter des Urbildes beyzu-<lb/>
fuͤgen — aus welchen Kontraſten iſt er zuſammengeſetzt! wie ſo leicht verfuͤhrt er zu einſeitigen,<lb/>ſchrecklich falſchen Urtheilen! ... Alſo <hirendition="#fr">Fragment</hi>ſeines wahren Charakters — Kaͤlte des To-<lb/>
des und verzehrendes Blitzfeuer — in Einer Seele, Einem Geſichte. Heiterer Fruͤhling und<lb/>ſtuͤrmendes Donnerwetter ſchnell auf einander — Eiſenfeſte Haͤrte mit der zaͤrtlichſten Empfindſam-<lb/>
keit; Muth mit Muthloſigkeit; Heldenmaͤßige Dreiſtigkeit — mit hoͤflicher Unterwuͤrfigkeit —<lb/>ſcheinbare Eitelkeit mit wahrer Beſcheidenheit; beißende Satyre mit ſanfter, ſchonender Herzens-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">U u 2</fw><fwplace="bottom"type="catch">guͤte</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[339/0553]
Vermiſchte Portraͤte.
Die Naſe um etwas zu lang, und kaum merklich abgeſchliffen — dadurch ver-
lor ſie nicht wenig von der Kraft der Natur — Das Naſenloch iſt im vordern Um-
riſſe wahrer und charakteriſtiſcher, als hier. Doch auch hier noch die ganze Naſe, ſo wie ſie iſt —
edel und feſt. Je tiefer herab, deſto mehr, oder vielmehr, deſto merklicher verliert ſich die Wahr-
heit der Natur.
Die Leerheit der Wange — die Unbeſtimmtheit des Mundes; der zu flache und gedehnte
Umriß des Oberkinns — hat fuͤr mein Aug’ etwas fatales, das in der Natur nicht iſt. Das Kinn
ſcheint in der Natur noch vordringender und kraͤftiger.
Aber im Auge — wie viel Seele iſt drinn! Jn der Geradheit und Feſtigkeit des obern
Augenlieds; in der Tiefe druͤber; — der Naͤhe der, obgleich ſchwachen, Augenbraune — und
dann in dem ſo beſtimmten, ſo ſichtbaren Stern ſelbſt — So ein Blick blickt durch! auf Einmal
durch! zum erſtenmal durch! So ein Auge, was es nicht im erſtenmal ſieht, wenn es ſehen will —
wird es nachher ſchwerlich mehr erblicken.
Die ungewoͤhnliche Laͤnge der Kinnlade — woferne der Knochen nicht gleichſam durch-
ſchien — woferne ſie wahr waͤre — ſchien eine Maͤnnlichkeit, die ſich der Rohigkeit naͤherte, an-
zuzeigen.
Aber nun noch ein ungeheurer Fehler dieſes Geſichtes? und ein Fehler von der aͤußerſten
phyſiognomiſchen Wichtigkeit — der Kopf iſt hinten obenher zu abgeſchliffen, zu ſchmal — nicht
gewoͤlbt — im Ausdrucke, nicht reich, nicht vielſaſſend, nicht offen.
Und nun, wenn’s erlaubt iſt — noch einige Zuͤge von dem Charakter des Urbildes beyzu-
fuͤgen — aus welchen Kontraſten iſt er zuſammengeſetzt! wie ſo leicht verfuͤhrt er zu einſeitigen,
ſchrecklich falſchen Urtheilen! ... Alſo Fragment ſeines wahren Charakters — Kaͤlte des To-
des und verzehrendes Blitzfeuer — in Einer Seele, Einem Geſichte. Heiterer Fruͤhling und
ſtuͤrmendes Donnerwetter ſchnell auf einander — Eiſenfeſte Haͤrte mit der zaͤrtlichſten Empfindſam-
keit; Muth mit Muthloſigkeit; Heldenmaͤßige Dreiſtigkeit — mit hoͤflicher Unterwuͤrfigkeit —
ſcheinbare Eitelkeit mit wahrer Beſcheidenheit; beißende Satyre mit ſanfter, ſchonender Herzens-
guͤte
U u 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/553>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.