Neunzehntes Fragment. Ein Frauenzimmer im Profile.
Des III. Ban- des XCIII. Tafel. W.
Weg den Blick von dem hohen, unnatürlichen, unwürdigen, entstellenden, durch seine eigne Last sich erdrückenden -- Haargeflechte -- weg von dem, was Kunst anflick- te -- und hin zu der Natur! der hohen, herrlichen, erhabnen, vollen, allgewaltig redenden Na- tur ... Was? Natur? So ein Gesicht, wie's in der Natur seyn muß, sollte das Bleystift, der Mi- niaturpinsel, der Grabstichel erreichen? Copieen eines solchen Gesichtes sollten noch Natur heißen können? ... Jch habe sie nicht gesehen, die Natur -- Aber die Copie hat sichtbare Fehler, und muß noch mehr haben, die für mich noch unsichtbar sind -- und dennoch, und dennoch -- wer freut sich auch in diesem Nachhalle nur, der Menschheit nicht? der Physiognomik nicht?
Größe -- wer kann sie in diesem Gesichte übersehen? dieser hohen -- nicht schönen, aber männlichen Heldenstirne? (wo jedoch der Einschnitt beynah übertrieben scheint) dieser von aller weib- lichen Kleinheit so reinen Nase -- dem möglichsten Kontraste und Widerspruche gegen die Unna- tur des Kopfgerüstes? Wahrlich eine Nase, wie sie nur gekrönte Häupter haben sollten! Aber wer sieht dann zugleich nicht das Nasenloch im Miniaturstyl? O ihr Zeichner und Mahler, wann wollt ihr klug werden? wann mit Augen sehen? wann mit Ohren hören? So ein Nasenlöchelgen zu ei- ner solchen Nase, so unmöglich ist's -- als ein Kindesfuß an einem Riesen!
"C'est un nez, fait pour renverser ou gouverner un royaume" -- würde der Franzose sagen.
Und dieser Blick? dieser Mund? -- ganz Natur ist er gewiß nicht! Harmonie ganz gewiß nicht! nicht Ein und derselbe Moment! Aber auch so noch -- nicht aus der kleinen Welt -- nicht von unten her -- wie fern erblickend, ergreifend, bezaubernd -- -- die Augenbraune -- ver- muthlich nicht genug vorwärtsgehend! -- Doch auch so noch nicht gemein! Nichts mehr, als noch die Bitte -- "Neige dich, erhabne Seele, vor dem, der dich schuf! Du bekleidest dich innwendig, bekleide dich auch auswendig mit der Demuth -- und sey, was du seyn kannst!
Einer
S s 3
Frauensperſonen.
Neunzehntes Fragment. Ein Frauenzimmer im Profile.
Des III. Ban- des XCIII. Tafel. W.
Weg den Blick von dem hohen, unnatuͤrlichen, unwuͤrdigen, entſtellenden, durch ſeine eigne Laſt ſich erdruͤckenden — Haargeflechte — weg von dem, was Kunſt anflick- te — und hin zu der Natur! der hohen, herrlichen, erhabnen, vollen, allgewaltig redenden Na- tur ... Was? Natur? So ein Geſicht, wie’s in der Natur ſeyn muß, ſollte das Bleyſtift, der Mi- niaturpinſel, der Grabſtichel erreichen? Copieen eines ſolchen Geſichtes ſollten noch Natur heißen koͤnnen? ... Jch habe ſie nicht geſehen, die Natur — Aber die Copie hat ſichtbare Fehler, und muß noch mehr haben, die fuͤr mich noch unſichtbar ſind — und dennoch, und dennoch — wer freut ſich auch in dieſem Nachhalle nur, der Menſchheit nicht? der Phyſiognomik nicht?
Groͤße — wer kann ſie in dieſem Geſichte uͤberſehen? dieſer hohen — nicht ſchoͤnen, aber maͤnnlichen Heldenſtirne? (wo jedoch der Einſchnitt beynah uͤbertrieben ſcheint) dieſer von aller weib- lichen Kleinheit ſo reinen Naſe — dem moͤglichſten Kontraſte und Widerſpruche gegen die Unna- tur des Kopfgeruͤſtes? Wahrlich eine Naſe, wie ſie nur gekroͤnte Haͤupter haben ſollten! Aber wer ſieht dann zugleich nicht das Naſenloch im Miniaturſtyl? O ihr Zeichner und Mahler, wann wollt ihr klug werden? wann mit Augen ſehen? wann mit Ohren hoͤren? So ein Naſenloͤchelgen zu ei- ner ſolchen Naſe, ſo unmoͤglich iſt’s — als ein Kindesfuß an einem Rieſen!
„C’eſt un néz, fait pour renverſer ou gouverner un royaume“ — wuͤrde der Franzoſe ſagen.
Und dieſer Blick? dieſer Mund? — ganz Natur iſt er gewiß nicht! Harmonie ganz gewiß nicht! nicht Ein und derſelbe Moment! Aber auch ſo noch — nicht aus der kleinen Welt — nicht von unten her — wie fern erblickend, ergreifend, bezaubernd — — die Augenbraune — ver- muthlich nicht genug vorwaͤrtsgehend! — Doch auch ſo noch nicht gemein! Nichts mehr, als noch die Bitte — „Neige dich, erhabne Seele, vor dem, der dich ſchuf! Du bekleideſt dich innwendig, bekleide dich auch auswendig mit der Demuth — und ſey, was du ſeyn kannſt!
Einer
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Frauensperſonen.
Neunzehntes Fragment.
Ein Frauenzimmer im Profile.
Weg den Blick von dem hohen, unnatuͤrlichen, unwuͤrdigen, entſtellenden, durch
ſeine eigne Laſt ſich erdruͤckenden — Haargeflechte — weg von dem, was Kunſt anflick-
te — und hin zu der Natur! der hohen, herrlichen, erhabnen, vollen, allgewaltig redenden Na-
tur ... Was? Natur? So ein Geſicht, wie’s in der Natur ſeyn muß, ſollte das Bleyſtift, der Mi-
niaturpinſel, der Grabſtichel erreichen? Copieen eines ſolchen Geſichtes ſollten noch Natur heißen
koͤnnen? ... Jch habe ſie nicht geſehen, die Natur — Aber die Copie hat ſichtbare Fehler, und
muß noch mehr haben, die fuͤr mich noch unſichtbar ſind — und dennoch, und dennoch — wer freut
ſich auch in dieſem Nachhalle nur, der Menſchheit nicht? der Phyſiognomik nicht?
Groͤße — wer kann ſie in dieſem Geſichte uͤberſehen? dieſer hohen — nicht ſchoͤnen, aber
maͤnnlichen Heldenſtirne? (wo jedoch der Einſchnitt beynah uͤbertrieben ſcheint) dieſer von aller weib-
lichen Kleinheit ſo reinen Naſe — dem moͤglichſten Kontraſte und Widerſpruche gegen die Unna-
tur des Kopfgeruͤſtes? Wahrlich eine Naſe, wie ſie nur gekroͤnte Haͤupter haben ſollten! Aber wer
ſieht dann zugleich nicht das Naſenloch im Miniaturſtyl? O ihr Zeichner und Mahler, wann wollt
ihr klug werden? wann mit Augen ſehen? wann mit Ohren hoͤren? So ein Naſenloͤchelgen zu ei-
ner ſolchen Naſe, ſo unmoͤglich iſt’s — als ein Kindesfuß an einem Rieſen!
„C’eſt un néz, fait pour renverſer ou gouverner un royaume“ — wuͤrde der
Franzoſe ſagen.
Und dieſer Blick? dieſer Mund? — ganz Natur iſt er gewiß nicht! Harmonie ganz gewiß
nicht! nicht Ein und derſelbe Moment! Aber auch ſo noch — nicht aus der kleinen Welt — nicht
von unten her — wie fern erblickend, ergreifend, bezaubernd — — die Augenbraune — ver-
muthlich nicht genug vorwaͤrtsgehend! — Doch auch ſo noch nicht gemein! Nichts mehr, als noch
die Bitte — „Neige dich, erhabne Seele, vor dem, der dich ſchuf! Du bekleideſt dich innwendig,
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/527>, abgerufen am 03.03.2025.
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