Was mildert mehr die männliche Rauheit, und stärkt und unterstützt dennoch zugleich mehr die männliche Schwäche? Was besänftigt allgewaltiger den schnell aufbrausenden Zorn? Und reizt zugleich mehr alle männliche Kraft? Was kann Mißmuthigkeit und Grämeley so schnell wegzaubern? Was die faden, langweiligen Stunden des Lebens, wenn ich so sagen darf, so wohlschmeckend und genießbar machen? -- Was, als die Nähe, als der herzvolle Blick eines edeln, wohlgebildeten weib- lichen Geschöpfes? als das Darstrecken einer sanften weiblichen Hand? als die Morgendämmerung einer zurückgehaltenen Thräne? -- Welcher Sünder muß da nicht aufhören zu sündigen? Wie kann der Geist Gottes sanfter und mächtiger auf ein Herz würken, als durch Läuterung und Schärfung dieses physiognomischen Sinnes für diese physiognomische weibliche Beredsamkeit? Was salzt und würzt so die unzähligen Gleichgültigkeiten, die uns täglich aufgetischt werden? Jch kann mir kaum eine größere Vaterwohlthat Gottes denken, als diesen physiognomischen Sinn. Er allein ist's so oft, der mir unzählige Bitterkeiten des Lebens augenblicklich versüßt. Wenn unter der Last zerreissender Beschäfftigungen mein Herz bisweilen zerbersten möchte; wenn in heißen Thränen meine Augen schwommen; wenn meine Brust glühte vor Beklemmung, weil man täglich zu mir sagte: wo ist nun dein Gott? wenn man mir die Seele, die ich mittheilen wollte, ins Gesicht zurückwarf; wenn Tha- ten der redlichsten Einfalt mit Koth bespritzt, und heiligster Drang des Wahrheitgefühles als Unsinn ausgezischt wurden; in den brennendsten Momenten des Lebens, wo ich mich in der sichtbaren Welt, die mich dann umgab, umsonst nach einem langsam quillenden Tropfen des Trostes umsah; -- siehe! Gott öffnete mir die Augen, zu sehen einen sprudelnden Quell, der sich in Bäche ergoß, woraus ich mich satt trinken, und kühl baden konnte -- Begegnender Blick war's einer sanften, zarten, aber innerlich starken und festen weiblichen Seele; ein Angesicht voll beynahe klösterlicher Jungfräulichkeit, das je- des Beben, jedes Leiden in der verborgensten Nerve des Angesichtes ihres Gatten fühlt, zu vertilgen bereit ist, und eben dadurch in demselben Augenblicke, ohne irgend einen Zusatz von dem, was die Welt Schönheit nennt, sich zum Engel zu verschönern scheint.
Kann's eine edlere menschliche Uebung geben, als Uebung dieses physiognomischen Sinnes für diese so mächtig würkenden Weiblichkeiten?
Aber dieser physiognomische Sinn ist auch das das allerwürksamste Verwahrungsmittel gegen Erniedrigungen seiner selbst und anderer. Wer kann eher die Gränze zwischen Fleisch
und
O o 2
Allgemeine Betrachtungen.
Was mildert mehr die maͤnnliche Rauheit, und ſtaͤrkt und unterſtuͤtzt dennoch zugleich mehr die maͤnnliche Schwaͤche? Was beſaͤnftigt allgewaltiger den ſchnell aufbrauſenden Zorn? Und reizt zugleich mehr alle maͤnnliche Kraft? Was kann Mißmuthigkeit und Graͤmeley ſo ſchnell wegzaubern? Was die faden, langweiligen Stunden des Lebens, wenn ich ſo ſagen darf, ſo wohlſchmeckend und genießbar machen? — Was, als die Naͤhe, als der herzvolle Blick eines edeln, wohlgebildeten weib- lichen Geſchoͤpfes? als das Darſtrecken einer ſanften weiblichen Hand? als die Morgendaͤmmerung einer zuruͤckgehaltenen Thraͤne? — Welcher Suͤnder muß da nicht aufhoͤren zu ſuͤndigen? Wie kann der Geiſt Gottes ſanfter und maͤchtiger auf ein Herz wuͤrken, als durch Laͤuterung und Schaͤrfung dieſes phyſiognomiſchen Sinnes fuͤr dieſe phyſiognomiſche weibliche Beredſamkeit? Was ſalzt und wuͤrzt ſo die unzaͤhligen Gleichguͤltigkeiten, die uns taͤglich aufgetiſcht werden? Jch kann mir kaum eine groͤßere Vaterwohlthat Gottes denken, als dieſen phyſiognomiſchen Sinn. Er allein iſt’s ſo oft, der mir unzaͤhlige Bitterkeiten des Lebens augenblicklich verſuͤßt. Wenn unter der Laſt zerreiſſender Beſchaͤfftigungen mein Herz bisweilen zerberſten moͤchte; wenn in heißen Thraͤnen meine Augen ſchwommen; wenn meine Bruſt gluͤhte vor Beklemmung, weil man taͤglich zu mir ſagte: wo iſt nun dein Gott? wenn man mir die Seele, die ich mittheilen wollte, ins Geſicht zuruͤckwarf; wenn Tha- ten der redlichſten Einfalt mit Koth beſpritzt, und heiligſter Drang des Wahrheitgefuͤhles als Unſinn ausgeziſcht wurden; in den brennendſten Momenten des Lebens, wo ich mich in der ſichtbaren Welt, die mich dann umgab, umſonſt nach einem langſam quillenden Tropfen des Troſtes umſah; — ſiehe! Gott oͤffnete mir die Augen, zu ſehen einen ſprudelnden Quell, der ſich in Baͤche ergoß, woraus ich mich ſatt trinken, und kuͤhl baden konnte — Begegnender Blick war’s einer ſanften, zarten, aber innerlich ſtarken und feſten weiblichen Seele; ein Angeſicht voll beynahe kloͤſterlicher Jungfraͤulichkeit, das je- des Beben, jedes Leiden in der verborgenſten Nerve des Angeſichtes ihres Gatten fuͤhlt, zu vertilgen bereit iſt, und eben dadurch in demſelben Augenblicke, ohne irgend einen Zuſatz von dem, was die Welt Schoͤnheit nennt, ſich zum Engel zu verſchoͤnern ſcheint.
Kann’s eine edlere menſchliche Uebung geben, als Uebung dieſes phyſiognomiſchen Sinnes fuͤr dieſe ſo maͤchtig wuͤrkenden Weiblichkeiten?
Aber dieſer phyſiognomiſche Sinn iſt auch das das allerwuͤrkſamſte Verwahrungsmittel gegen Erniedrigungen ſeiner ſelbſt und anderer. Wer kann eher die Graͤnze zwiſchen Fleiſch
und
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Allgemeine Betrachtungen.
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zugleich mehr alle maͤnnliche Kraft? Was kann Mißmuthigkeit und Graͤmeley ſo ſchnell wegzaubern?
Was die faden, langweiligen Stunden des Lebens, wenn ich ſo ſagen darf, ſo wohlſchmeckend und
genießbar machen? — Was, als die Naͤhe, als der herzvolle Blick eines edeln, wohlgebildeten weib-
lichen Geſchoͤpfes? als das Darſtrecken einer ſanften weiblichen Hand? als die Morgendaͤmmerung
einer zuruͤckgehaltenen Thraͤne? — Welcher Suͤnder muß da nicht aufhoͤren zu ſuͤndigen? Wie kann
der Geiſt Gottes ſanfter und maͤchtiger auf ein Herz wuͤrken, als durch Laͤuterung und Schaͤrfung
dieſes phyſiognomiſchen Sinnes fuͤr dieſe phyſiognomiſche weibliche Beredſamkeit? Was ſalzt und
wuͤrzt ſo die unzaͤhligen Gleichguͤltigkeiten, die uns taͤglich aufgetiſcht werden? Jch kann mir kaum
eine groͤßere Vaterwohlthat Gottes denken, als dieſen phyſiognomiſchen Sinn. Er allein iſt’s ſo oft,
der mir unzaͤhlige Bitterkeiten des Lebens augenblicklich verſuͤßt. Wenn unter der Laſt zerreiſſender
Beſchaͤfftigungen mein Herz bisweilen zerberſten moͤchte; wenn in heißen Thraͤnen meine Augen
ſchwommen; wenn meine Bruſt gluͤhte vor Beklemmung, weil man taͤglich zu mir ſagte: wo iſt nun
dein Gott? wenn man mir die Seele, die ich mittheilen wollte, ins Geſicht zuruͤckwarf; wenn Tha-
ten der redlichſten Einfalt mit Koth beſpritzt, und heiligſter Drang des Wahrheitgefuͤhles als Unſinn
ausgeziſcht wurden; in den brennendſten Momenten des Lebens, wo ich mich in der ſichtbaren Welt, die
mich dann umgab, umſonſt nach einem langſam quillenden Tropfen des Troſtes umſah; — ſiehe! Gott
oͤffnete mir die Augen, zu ſehen einen ſprudelnden Quell, der ſich in Baͤche ergoß, woraus ich mich
ſatt trinken, und kuͤhl baden konnte — Begegnender Blick war’s einer ſanften, zarten, aber innerlich
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Welt Schoͤnheit nennt, ſich zum Engel zu verſchoͤnern ſcheint.
Kann’s eine edlere menſchliche Uebung geben, als Uebung dieſes phyſiognomiſchen Sinnes
fuͤr dieſe ſo maͤchtig wuͤrkenden Weiblichkeiten?
Aber dieſer phyſiognomiſche Sinn iſt auch das das allerwuͤrkſamſte Verwahrungsmittel
gegen Erniedrigungen ſeiner ſelbſt und anderer. Wer kann eher die Graͤnze zwiſchen Fleiſch
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/465>, abgerufen am 22.11.2024.
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