Unter allen mir bekannten Theologen, der -- mit dem ich am meisten sympathisire -- oder viel- mehr, dessen Theologie zunächst an die meinige gränzt, und der doch so unaussprechlich von mir ver- schieden ist, als es ein Mensch seyn kann. Ein ganz außerordentlich mechanisches, mathematisches und astronomisches Genie, das immer erfindet, immer schafft -- mit ausharrender, allüberwinden- der Geduld, zum letzten Ziel alles ausführt. Er schafft Welten, und freut sich einfältig seiner stillen Schöpfungskraft.
Das Bild ist ähnlich, was man ähnlich heißt; aber die Stirn in der Natur ist viel ver- standreicher.
Die Nase ist, wie sie hier ist, lautzeugender Ausspruch von hellreiner, fester Weisheit. Güte und Dienstfertigkeit ist im Munde, der jedoch eine Tinktur von schwäbischer Blödigkeit zu haben scheint.
Jm Kinne viel Verstand und Dexterität.
Der Tiefblick fehlt dem zu matten, untreffenden Auge.
Noch ein Wort von seinen Schriften.
Seine Sammlung von Betrachtungen über alle sonn- und festtäglichen Evange- lien -- und sein Fingerzeig -- *) sind mir eine Goldgrube von großen, unerkannten, und wissens- würdigsten Wahrheiten. Jch schäme mich nicht, zu sagen, daß ich mir's nicht verzeihen kann, diese Höhe und Tiefe von Christuserkenntniß in der Einfalt seines hellen, edeln Gesichtes nicht bemerkt zu haben. Jch suchte, das ist wahr, nur den Mechaniker; und den fand ich im Auge. Jch sah auch den großen Theologen -- aber bey weitem nicht den großen, den ich nachher in seinen Schriften, deren unser Zeitalter kaum werth ist, gefunden habe. -- Jch bitte aber, nichts blühendes, colorirtes, so wenig als triviales und Seelenloses drinn zu erwarten. Sie sind für sehr wenige -- aber für wen sie sind, für den sind sie ganz. Ganz Thorheit, oder Weisheit.
Wenn
*) Man kann seine Werke nicht im Buchladen finden, sondern bey ihm selber zu Kornwestheim bey Ludwigsburg.
Phys. Fragm.IIIVersuch. M m
Religioſe.
Dreyzehntes Fragment. Hahn.
Unter allen mir bekannten Theologen, der — mit dem ich am meiſten ſympathiſire — oder viel- mehr, deſſen Theologie zunaͤchſt an die meinige graͤnzt, und der doch ſo unausſprechlich von mir ver- ſchieden iſt, als es ein Menſch ſeyn kann. Ein ganz außerordentlich mechaniſches, mathematiſches und aſtronomiſches Genie, das immer erfindet, immer ſchafft — mit ausharrender, alluͤberwinden- der Geduld, zum letzten Ziel alles ausfuͤhrt. Er ſchafft Welten, und freut ſich einfaͤltig ſeiner ſtillen Schoͤpfungskraft.
Das Bild iſt aͤhnlich, was man aͤhnlich heißt; aber die Stirn in der Natur iſt viel ver- ſtandreicher.
Die Naſe iſt, wie ſie hier iſt, lautzeugender Ausſpruch von hellreiner, feſter Weisheit. Guͤte und Dienſtfertigkeit iſt im Munde, der jedoch eine Tinktur von ſchwaͤbiſcher Bloͤdigkeit zu haben ſcheint.
Jm Kinne viel Verſtand und Dexteritaͤt.
Der Tiefblick fehlt dem zu matten, untreffenden Auge.
Noch ein Wort von ſeinen Schriften.
Seine Sammlung von Betrachtungen uͤber alle ſonn- und feſttaͤglichen Evange- lien — und ſein Fingerzeig — *) ſind mir eine Goldgrube von großen, unerkannten, und wiſſens- wuͤrdigſten Wahrheiten. Jch ſchaͤme mich nicht, zu ſagen, daß ich mir’s nicht verzeihen kann, dieſe Hoͤhe und Tiefe von Chriſtuserkenntniß in der Einfalt ſeines hellen, edeln Geſichtes nicht bemerkt zu haben. Jch ſuchte, das iſt wahr, nur den Mechaniker; und den fand ich im Auge. Jch ſah auch den großen Theologen — aber bey weitem nicht den großen, den ich nachher in ſeinen Schriften, deren unſer Zeitalter kaum werth iſt, gefunden habe. — Jch bitte aber, nichts bluͤhendes, colorirtes, ſo wenig als triviales und Seelenloſes drinn zu erwarten. Sie ſind fuͤr ſehr wenige — aber fuͤr wen ſie ſind, fuͤr den ſind ſie ganz. Ganz Thorheit, oder Weisheit.
Wenn
*) Man kann ſeine Werke nicht im Buchladen finden, ſondern bey ihm ſelber zu Kornweſtheim bey Ludwigsburg.
Phyſ. Fragm.IIIVerſuch. M m
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Religioſe.
Dreyzehntes Fragment.
Hahn.
Unter allen mir bekannten Theologen, der — mit dem ich am meiſten ſympathiſire — oder viel-
mehr, deſſen Theologie zunaͤchſt an die meinige graͤnzt, und der doch ſo unausſprechlich von mir ver-
ſchieden iſt, als es ein Menſch ſeyn kann. Ein ganz außerordentlich mechaniſches, mathematiſches
und aſtronomiſches Genie, das immer erfindet, immer ſchafft — mit ausharrender, alluͤberwinden-
der Geduld, zum letzten Ziel alles ausfuͤhrt. Er ſchafft Welten, und freut ſich einfaͤltig ſeiner ſtillen
Schoͤpfungskraft.
Das Bild iſt aͤhnlich, was man aͤhnlich heißt; aber die Stirn in der Natur iſt viel ver-
ſtandreicher.
Die Naſe iſt, wie ſie hier iſt, lautzeugender Ausſpruch von hellreiner, feſter Weisheit. Guͤte
und Dienſtfertigkeit iſt im Munde, der jedoch eine Tinktur von ſchwaͤbiſcher Bloͤdigkeit zu haben
ſcheint.
Jm Kinne viel Verſtand und Dexteritaͤt.
Der Tiefblick fehlt dem zu matten, untreffenden Auge.
Noch ein Wort von ſeinen Schriften.
Seine Sammlung von Betrachtungen uͤber alle ſonn- und feſttaͤglichen Evange-
lien — und ſein Fingerzeig — *) ſind mir eine Goldgrube von großen, unerkannten, und wiſſens-
wuͤrdigſten Wahrheiten. Jch ſchaͤme mich nicht, zu ſagen, daß ich mir’s nicht verzeihen kann, dieſe
Hoͤhe und Tiefe von Chriſtuserkenntniß in der Einfalt ſeines hellen, edeln Geſichtes nicht bemerkt
zu haben. Jch ſuchte, das iſt wahr, nur den Mechaniker; und den fand ich im Auge. Jch ſah auch
den großen Theologen — aber bey weitem nicht den großen, den ich nachher in ſeinen Schriften,
deren unſer Zeitalter kaum werth iſt, gefunden habe. — Jch bitte aber, nichts bluͤhendes, colorirtes,
ſo wenig als triviales und Seelenloſes drinn zu erwarten. Sie ſind fuͤr ſehr wenige — aber fuͤr wen
ſie ſind, fuͤr den ſind ſie ganz. Ganz Thorheit, oder Weisheit.
Wenn
*) Man kann ſeine Werke nicht im Buchladen finden, ſondern bey ihm ſelber zu Kornweſtheim bey Ludwigsburg.
Phyſ. Fragm. III Verſuch. M m
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/439>, abgerufen am 03.03.2025.
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