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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Revision des zweyten Bandes.
5.

Zu allen Fragmenten bis aufs achte, weiß ich nichts beyzufügen: Zum achten über So-
krates
-- eine Stelle aus einer andern geistvollen und offenbar zu gütigen Recension des zweyten
Bandes der physiognomischen Fragmente.

"So wahr alles ist, was der Verfasser nach gegebenen Bildern und über das unbestimmte
"Wort Anlage, Anlage zum Bösen überhaupt saget; so hält's doch schwer, Zopyrus, der das
"lebendige Gesicht Sokrates sah, und dessen Urtheil von Sokrates selbst bestätiget ward, schlecht-
"hin des Jrrthums zu überführen" ... (Geschahe das?) "Die Silenbildung Sokrates ist
"durchs ganze Alterthum bekannt, und war nicht bloß ein Einfall des jungen Alcibiades, der aber
"auch, schon allein genommen, hierinn treuer Zeuge wäre; so gut Sokrates die Bildung seines
"Lieblings kennen mußte -- so gut kannte der Geliebte gewiß die Bildung seines Liebhabers; da
"hingegen die Bildnisse berühmter Männer, die aus dem Alterthume durch die Kunst zu uns ge-
"kommen, schon alle in Kunst gefasset, wo nicht idealisirt, so doch einmarmorirt sind und der-
"gleichen. Bey vielen sind die Namen bloß Tradition: Tradition, die sich nur bis ins Jahrhun-
"dert der wiedergefundenen Wissenschaft hinaufzieht. Wie da ein oft sehr kurzsichtiger Anti-
"quar den Kopf nannte, so blieb ihm der Name, so wurden andere darnach genannt. Ob wir nun
"dieses gleich von Sokrateskopf am mindesten gesagt, oder gezweifelt haben wollen; so ist doch sicht-
"bar, daß alle 11. oder 12. Sokratesköpfe, die hier gesammelt sind, eigentlich nur Ein und der-
"selbe, durch die Kunst und Tradition gegebene,
von jedem Künstler veränderte Sokrates
"sey; folglich in diesem Betracht Lavater an Materie zum Urtheil ungemein weit hinter Zopy-
"rus, Alcibiades,
oder Sokrates selbst stehe. -- Sollten nun in der That nicht Bildungen
"möglich seyn, die uns nicht als Handleiterinnen zum Guten in gerader Linie, sondern als drü-
"ckende Pfunde gegeben wären, den Geist und das Herz eben im Gegengewichte hinaufzuspielen?
"Wenn ein Apostel sagte: der ich zuvor war ein Lästerer, ein Schmäler, ein Verfolger,
(o ich bin überzeugt, unbekannter Weiser! daß er auch Reste genug davon noch in seinem Gesichte
wird übrig behalten haben?) "aber itzt bin ich ein Beyspiel und redendes Vorbild der
"Barmherzigkeit und Güte;
konnte das nicht Sokrates eben auch sagen und seyn? würklich
"gewesen seyn? Und wahrlich dem ist also! Der Mann, der Athen und seine Zeit überwand;
mußte
Phys. Fragm. III Versuch. D
Reviſion des zweyten Bandes.
5.

Zu allen Fragmenten bis aufs achte, weiß ich nichts beyzufuͤgen: Zum achten uͤber So-
krates
— eine Stelle aus einer andern geiſtvollen und offenbar zu guͤtigen Recenſion des zweyten
Bandes der phyſiognomiſchen Fragmente.

„So wahr alles iſt, was der Verfaſſer nach gegebenen Bildern und uͤber das unbeſtimmte
„Wort Anlage, Anlage zum Boͤſen uͤberhaupt ſaget; ſo haͤlt’s doch ſchwer, Zopyrus, der das
„lebendige Geſicht Sokrates ſah, und deſſen Urtheil von Sokrates ſelbſt beſtaͤtiget ward, ſchlecht-
„hin des Jrrthums zu uͤberfuͤhren“ ... (Geſchahe das?) „Die Silenbildung Sokrates iſt
„durchs ganze Alterthum bekannt, und war nicht bloß ein Einfall des jungen Alcibiades, der aber
„auch, ſchon allein genommen, hierinn treuer Zeuge waͤre; ſo gut Sokrates die Bildung ſeines
„Lieblings kennen mußte — ſo gut kannte der Geliebte gewiß die Bildung ſeines Liebhabers; da
„hingegen die Bildniſſe beruͤhmter Maͤnner, die aus dem Alterthume durch die Kunſt zu uns ge-
„kommen, ſchon alle in Kunſt gefaſſet, wo nicht idealiſirt, ſo doch einmarmorirt ſind und der-
„gleichen. Bey vielen ſind die Namen bloß Tradition: Tradition, die ſich nur bis ins Jahrhun-
„dert der wiedergefundenen Wiſſenſchaft hinaufzieht. Wie da ein oft ſehr kurzſichtiger Anti-
„quar den Kopf nannte, ſo blieb ihm der Name, ſo wurden andere darnach genannt. Ob wir nun
„dieſes gleich von Sokrateskopf am mindeſten geſagt, oder gezweifelt haben wollen; ſo iſt doch ſicht-
„bar, daß alle 11. oder 12. Sokrateskoͤpfe, die hier geſammelt ſind, eigentlich nur Ein und der-
„ſelbe, durch die Kunſt und Tradition gegebene,
von jedem Kuͤnſtler veraͤnderte Sokrates
„ſey; folglich in dieſem Betracht Lavater an Materie zum Urtheil ungemein weit hinter Zopy-
„rus, Alcibiades,
oder Sokrates ſelbſt ſtehe. — Sollten nun in der That nicht Bildungen
„moͤglich ſeyn, die uns nicht als Handleiterinnen zum Guten in gerader Linie, ſondern als druͤ-
„ckende Pfunde gegeben waͤren, den Geiſt und das Herz eben im Gegengewichte hinaufzuſpielen?
„Wenn ein Apoſtel ſagte: der ich zuvor war ein Laͤſterer, ein Schmaͤler, ein Verfolger,
(o ich bin uͤberzeugt, unbekannter Weiſer! daß er auch Reſte genug davon noch in ſeinem Geſichte
wird uͤbrig behalten haben?) „aber itzt bin ich ein Beyſpiel und redendes Vorbild der
„Barmherzigkeit und Guͤte;
konnte das nicht Sokrates eben auch ſagen und ſeyn? wuͤrklich
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mußte
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[25/0041] Reviſion des zweyten Bandes. 5. Zu allen Fragmenten bis aufs achte, weiß ich nichts beyzufuͤgen: Zum achten uͤber So- krates — eine Stelle aus einer andern geiſtvollen und offenbar zu guͤtigen Recenſion des zweyten Bandes der phyſiognomiſchen Fragmente. „So wahr alles iſt, was der Verfaſſer nach gegebenen Bildern und uͤber das unbeſtimmte „Wort Anlage, Anlage zum Boͤſen uͤberhaupt ſaget; ſo haͤlt’s doch ſchwer, Zopyrus, der das „lebendige Geſicht Sokrates ſah, und deſſen Urtheil von Sokrates ſelbſt beſtaͤtiget ward, ſchlecht- „hin des Jrrthums zu uͤberfuͤhren“ ... (Geſchahe das?) „Die Silenbildung Sokrates iſt „durchs ganze Alterthum bekannt, und war nicht bloß ein Einfall des jungen Alcibiades, der aber „auch, ſchon allein genommen, hierinn treuer Zeuge waͤre; ſo gut Sokrates die Bildung ſeines „Lieblings kennen mußte — ſo gut kannte der Geliebte gewiß die Bildung ſeines Liebhabers; da „hingegen die Bildniſſe beruͤhmter Maͤnner, die aus dem Alterthume durch die Kunſt zu uns ge- „kommen, ſchon alle in Kunſt gefaſſet, wo nicht idealiſirt, ſo doch einmarmorirt ſind und der- „gleichen. Bey vielen ſind die Namen bloß Tradition: Tradition, die ſich nur bis ins Jahrhun- „dert der wiedergefundenen Wiſſenſchaft hinaufzieht. Wie da ein oft ſehr kurzſichtiger Anti- „quar den Kopf nannte, ſo blieb ihm der Name, ſo wurden andere darnach genannt. Ob wir nun „dieſes gleich von Sokrateskopf am mindeſten geſagt, oder gezweifelt haben wollen; ſo iſt doch ſicht- „bar, daß alle 11. oder 12. Sokrateskoͤpfe, die hier geſammelt ſind, eigentlich nur Ein und der- „ſelbe, durch die Kunſt und Tradition gegebene, von jedem Kuͤnſtler veraͤnderte Sokrates „ſey; folglich in dieſem Betracht Lavater an Materie zum Urtheil ungemein weit hinter Zopy- „rus, Alcibiades, oder Sokrates ſelbſt ſtehe. — Sollten nun in der That nicht Bildungen „moͤglich ſeyn, die uns nicht als Handleiterinnen zum Guten in gerader Linie, ſondern als druͤ- „ckende Pfunde gegeben waͤren, den Geiſt und das Herz eben im Gegengewichte hinaufzuſpielen? „Wenn ein Apoſtel ſagte: der ich zuvor war ein Laͤſterer, ein Schmaͤler, ein Verfolger, (o ich bin uͤberzeugt, unbekannter Weiſer! daß er auch Reſte genug davon noch in ſeinem Geſichte wird uͤbrig behalten haben?) „aber itzt bin ich ein Beyſpiel und redendes Vorbild der „Barmherzigkeit und Guͤte; konnte das nicht Sokrates eben auch ſagen und ſeyn? wuͤrklich „geweſen ſeyn? Und wahrlich dem iſt alſo! Der Mann, der Athen und ſeine Zeit uͤberwand; mußte Phyſ. Fragm. III Verſuch. D

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/41>, abgerufen am 18.12.2024.