O du, der gerade diesen Augenblick Millionen Augen, die dich nicht in deinen Werken, dich nicht im Angesichte der Menschheit sehen -- dennoch väterlich erfreut -- laß mich an diesem mein schaamvolles Herz süß durchbebenden Morgen die Kinderbitte vor deinem Throne niederlegen:
"Lehre mich schreiben nach deinem Willen, denn du bist mein Gott! dein guter "Geist führe mich auf ebener Bahn! Laß deinem Knechte dein Werk scheinen, und dei- "ne Herrlichkeit deinem Kinde! Die Lieblichkeit des Herrn meines Gottes sey vor mir! "Fördere mein Geschäffte! Ja fördere und vollende das Werk meiner Hände." --
Ach! daß wir's so selten denken, wie unmittelbar wir dich -- offenbaren, darstellen, ver- herrlichen -- wenn sich unsere Seele in Anbetung deiner versenkt und verliert! So selten uns der Herzzersprengenden Wonne dahingeben -- die unser Angesicht, wie's auch immer gebildet, wie's auch immer zerrüttet sey -- dennoch wieder mit dem Geiste deines Sohnes salbet, und Pfand ist, Stral ist der unsichtbaren Welt, in die wir, reif geworden im Nachtleibe von Erde -- so bald, so bald geboren werden sollten!
Wem Gott Menschheit gab, dem gab er Religionsempfänglichkeit, und wer auf eine ähn- liche Weise gegliedert ist, wie -- der, der allen seinen Brüdern gleich wurde -- der darf nie denken -- unwiderherstellbar verdorben zu seyn.
Aber alles hat seine Zeit. Nicht jede Fähigkeit des Menschen kann sich entwickeln, wenn sie will -- nicht jede kann sich in dem gegenwärtigen Leben entwickeln. Es wird sich alles geben. Der, welchem tausend Jahre sind, wie ein einziger Tag, kann ruhig und ohne Zorn wax- ten, bis alles zur Reife gelangt und Frucht bringt, dreyßigfältig, sechzigfältig, hundertfältig. Unzählige Menschen mit den herrlichsten Anlagen sollen nach dem Geheimnisse des göttlichen Rathschlusses -- mit unentwickelten Anlagen aus dieser Welt herausgehen. Es soll noch nicht offenbar werden, was in ihnen ist -- wie viel soll noch aufbehalten seyn dem Tage, vor dem alle Tage und Nächte verschwinden?
Es ist jedem seine Stunde bestimmt; wie seiner Empfängniß und Geburt in die sichtbare Welt; so seiner Geburt in die unsichtbare Welt. Darum soll eben der Sohn regieren im
Namen
Allgemeine Betrachtungen.
O du, der gerade dieſen Augenblick Millionen Augen, die dich nicht in deinen Werken, dich nicht im Angeſichte der Menſchheit ſehen — dennoch vaͤterlich erfreut — laß mich an dieſem mein ſchaamvolles Herz ſuͤß durchbebenden Morgen die Kinderbitte vor deinem Throne niederlegen:
„Lehre mich ſchreiben nach deinem Willen, denn du biſt mein Gott! dein guter „Geiſt fuͤhre mich auf ebener Bahn! Laß deinem Knechte dein Werk ſcheinen, und dei- „ne Herrlichkeit deinem Kinde! Die Lieblichkeit des Herrn meines Gottes ſey vor mir! „Foͤrdere mein Geſchaͤffte! Ja foͤrdere und vollende das Werk meiner Haͤnde.“ —
Ach! daß wir’s ſo ſelten denken, wie unmittelbar wir dich — offenbaren, darſtellen, ver- herrlichen — wenn ſich unſere Seele in Anbetung deiner verſenkt und verliert! So ſelten uns der Herzzerſprengenden Wonne dahingeben — die unſer Angeſicht, wie’s auch immer gebildet, wie’s auch immer zerruͤttet ſey — dennoch wieder mit dem Geiſte deines Sohnes ſalbet, und Pfand iſt, Stral iſt der unſichtbaren Welt, in die wir, reif geworden im Nachtleibe von Erde — ſo bald, ſo bald geboren werden ſollten!
Wem Gott Menſchheit gab, dem gab er Religionsempfaͤnglichkeit, und wer auf eine aͤhn- liche Weiſe gegliedert iſt, wie — der, der allen ſeinen Bruͤdern gleich wurde — der darf nie denken — unwiderherſtellbar verdorben zu ſeyn.
Aber alles hat ſeine Zeit. Nicht jede Faͤhigkeit des Menſchen kann ſich entwickeln, wenn ſie will — nicht jede kann ſich in dem gegenwaͤrtigen Leben entwickeln. Es wird ſich alles geben. Der, welchem tauſend Jahre ſind, wie ein einziger Tag, kann ruhig und ohne Zorn wax- ten, bis alles zur Reife gelangt und Frucht bringt, dreyßigfaͤltig, ſechzigfaͤltig, hundertfaͤltig. Unzaͤhlige Menſchen mit den herrlichſten Anlagen ſollen nach dem Geheimniſſe des goͤttlichen Rathſchluſſes — mit unentwickelten Anlagen aus dieſer Welt herausgehen. Es ſoll noch nicht offenbar werden, was in ihnen iſt — wie viel ſoll noch aufbehalten ſeyn dem Tage, vor dem alle Tage und Naͤchte verſchwinden?
Es iſt jedem ſeine Stunde beſtimmt; wie ſeiner Empfaͤngniß und Geburt in die ſichtbare Welt; ſo ſeiner Geburt in die unſichtbare Welt. Darum ſoll eben der Sohn regieren im
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mein ſchaamvolles Herz ſuͤß durchbebenden Morgen die Kinderbitte vor deinem Throne niederlegen:
„Lehre mich ſchreiben nach deinem Willen, denn du biſt mein Gott! dein guter
„Geiſt fuͤhre mich auf ebener Bahn! Laß deinem Knechte dein Werk ſcheinen, und dei-
„ne Herrlichkeit deinem Kinde! Die Lieblichkeit des Herrn meines Gottes ſey vor mir!
„Foͤrdere mein Geſchaͤffte! Ja foͤrdere und vollende das Werk meiner Haͤnde.“ —
Ach! daß wir’s ſo ſelten denken, wie unmittelbar wir dich — offenbaren, darſtellen, ver-
herrlichen — wenn ſich unſere Seele in Anbetung deiner verſenkt und verliert! So ſelten uns der
Herzzerſprengenden Wonne dahingeben — die unſer Angeſicht, wie’s auch immer gebildet, wie’s
auch immer zerruͤttet ſey — dennoch wieder mit dem Geiſte deines Sohnes ſalbet, und Pfand iſt,
Stral iſt der unſichtbaren Welt, in die wir, reif geworden im Nachtleibe von Erde — ſo bald, ſo
bald geboren werden ſollten!
Wem Gott Menſchheit gab, dem gab er Religionsempfaͤnglichkeit, und wer auf eine aͤhn-
liche Weiſe gegliedert iſt, wie — der, der allen ſeinen Bruͤdern gleich wurde — der darf nie
denken — unwiderherſtellbar verdorben zu ſeyn.
Aber alles hat ſeine Zeit. Nicht jede Faͤhigkeit des Menſchen kann ſich entwickeln, wenn
ſie will — nicht jede kann ſich in dem gegenwaͤrtigen Leben entwickeln. Es wird ſich alles geben.
Der, welchem tauſend Jahre ſind, wie ein einziger Tag, kann ruhig und ohne Zorn wax-
ten, bis alles zur Reife gelangt und Frucht bringt, dreyßigfaͤltig, ſechzigfaͤltig, hundertfaͤltig.
Unzaͤhlige Menſchen mit den herrlichſten Anlagen ſollen nach dem Geheimniſſe des goͤttlichen
Rathſchluſſes — mit unentwickelten Anlagen aus dieſer Welt herausgehen. Es ſoll noch nicht
offenbar werden, was in ihnen iſt — wie viel ſoll noch aufbehalten ſeyn dem Tage, vor dem alle
Tage und Naͤchte verſchwinden?
Es iſt jedem ſeine Stunde beſtimmt; wie ſeiner Empfaͤngniß und Geburt in die ſichtbare
Welt; ſo ſeiner Geburt in die unſichtbare Welt. Darum ſoll eben der Sohn regieren im
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/387>, abgerufen am 16.02.2025.
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