ist; das Unsichtbare! Nicht vergängliche Glückseligkeit, unvergängliche -- Siehe -- da ihre Welt; ihre Nahrung; ihre Liebe!
Leser -- ich vergesse nicht, daß ich physiognomische Fragmente schreibe, zur Beförde- rung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Was ich gesagt habe, und noch sagen wer- de -- führt uns genau zu dem Ziele, wohin wir zu kommen gedenken -- also duldet meine schein- bare Ausschweifung ein wenig -- und wie könnt's große Ausschweifung seyn, wenn ich auch, ohne besondere Einlenkung auf die Physiognomik, bloß um des Anlasses willen auf dieser herrlichen, aussichtreichen Höhe gern mit euch verweile, das heißt: ein Paar Seiten mit -- Betrachtungen der Religion -- ich will doch nicht hoffen -- verderbe -- nein, nur fülle!
Religion -- Bedürfniß höherer Unsichtbarkeiten, und Glaube an solche; Reli- gion, immer Sinn, Gefühl, Genie fürs Unsichtbare, Höhere, Uebermenschliche, Ueberirrdi- sche, Religion immer Glaube. Auch wenn sie Aberglaube ist. Auch wenn sie Schwärmerey ist -- Aberglauben -- Glauben an nicht existirende Wesen -- an nicht auf uns würken- de Unsichtbarkeiten. Kranke Religion. Religion ohne Vernunft. Schwärmerey -- Glauben an Täuschungen, statt Erfahrungen aus der unsichtbaren Welt. Religion ohne Erfahrung. Aechte, wahre Religion .. Was? Glaube an würklich existirende Unsichtbarkeiten, deren Einfluß man sinnlich erfahren hat, oder erfahren kann. Glaube an unsichtbare höhere Wesen, der so fest ist, wie der Glaube an uns selber, und so gewiß, wie unsere Exi- stenz -- weil er sich auf Erfahrungen gründet, die so wenig täuschen konnten, als uns das Ge- fühl unserer Existenz täuschen kann -- das ist -- Religion, reine, gesunde Religion.
Religion ist also immer Glaube, oder Vergegenwärtigung unsichtbarer höherer Dinge, wie wenn sie sichtbar wären.
Jn so fern also immer Würde, Hoheit der menschlichen Natur. Glaubensfähigkeit -- an höhere Unsichtbarkeiten. Wenn ich unglücklich genug wäre, keinen Gott zu glauben -- diese so überthierische Fähigkeit der menschlichen Natur müßte mir ehrwürdig und heilig seyn; und müß- te mich, wenn ich männlichen, festen Trittes fortschlösse -- zur allervernünftigsten Ueberzeugung führen -- "Es muß eben um dieser Glaubensfähigkeit willen -- eine unsichtbare Welt geben,
worauf
X. Abſchnitt. I. Fragment.
iſt; das Unſichtbare! Nicht vergaͤngliche Gluͤckſeligkeit, unvergaͤngliche — Siehe — da ihre Welt; ihre Nahrung; ihre Liebe!
Leſer — ich vergeſſe nicht, daß ich phyſiognomiſche Fragmente ſchreibe, zur Befoͤrde- rung der Menſchenkenntniß und Menſchenliebe. Was ich geſagt habe, und noch ſagen wer- de — fuͤhrt uns genau zu dem Ziele, wohin wir zu kommen gedenken — alſo duldet meine ſchein- bare Ausſchweifung ein wenig — und wie koͤnnt’s große Ausſchweifung ſeyn, wenn ich auch, ohne beſondere Einlenkung auf die Phyſiognomik, bloß um des Anlaſſes willen auf dieſer herrlichen, ausſichtreichen Hoͤhe gern mit euch verweile, das heißt: ein Paar Seiten mit — Betrachtungen der Religion — ich will doch nicht hoffen — verderbe — nein, nur fuͤlle!
Religion — Beduͤrfniß hoͤherer Unſichtbarkeiten, und Glaube an ſolche; Reli- gion, immer Sinn, Gefuͤhl, Genie fuͤrs Unſichtbare, Hoͤhere, Uebermenſchliche, Ueberirrdi- ſche, Religion immer Glaube. Auch wenn ſie Aberglaube iſt. Auch wenn ſie Schwaͤrmerey iſt — Aberglauben — Glauben an nicht exiſtirende Weſen — an nicht auf uns wuͤrken- de Unſichtbarkeiten. Kranke Religion. Religion ohne Vernunft. Schwaͤrmerey — Glauben an Taͤuſchungen, ſtatt Erfahrungen aus der unſichtbaren Welt. Religion ohne Erfahrung. Aechte, wahre Religion .. Was? Glaube an wuͤrklich exiſtirende Unſichtbarkeiten, deren Einfluß man ſinnlich erfahren hat, oder erfahren kann. Glaube an unſichtbare hoͤhere Weſen, der ſo feſt iſt, wie der Glaube an uns ſelber, und ſo gewiß, wie unſere Exi- ſtenz — weil er ſich auf Erfahrungen gruͤndet, die ſo wenig taͤuſchen konnten, als uns das Ge- fuͤhl unſerer Exiſtenz taͤuſchen kann — das iſt — Religion, reine, geſunde Religion.
Religion iſt alſo immer Glaube, oder Vergegenwaͤrtigung unſichtbarer hoͤherer Dinge, wie wenn ſie ſichtbar waͤren.
Jn ſo fern alſo immer Wuͤrde, Hoheit der menſchlichen Natur. Glaubensfaͤhigkeit — an hoͤhere Unſichtbarkeiten. Wenn ich ungluͤcklich genug waͤre, keinen Gott zu glauben — dieſe ſo uͤberthieriſche Faͤhigkeit der menſchlichen Natur muͤßte mir ehrwuͤrdig und heilig ſeyn; und muͤß- te mich, wenn ich maͤnnlichen, feſten Trittes fortſchloͤſſe — zur allervernuͤnftigſten Ueberzeugung fuͤhren — „Es muß eben um dieſer Glaubensfaͤhigkeit willen — eine unſichtbare Welt geben,
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X. Abſchnitt. I. Fragment.
iſt; das Unſichtbare! Nicht vergaͤngliche Gluͤckſeligkeit, unvergaͤngliche — Siehe — da ihre
Welt; ihre Nahrung; ihre Liebe!
Leſer — ich vergeſſe nicht, daß ich phyſiognomiſche Fragmente ſchreibe, zur Befoͤrde-
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de — fuͤhrt uns genau zu dem Ziele, wohin wir zu kommen gedenken — alſo duldet meine ſchein-
bare Ausſchweifung ein wenig — und wie koͤnnt’s große Ausſchweifung ſeyn, wenn ich auch, ohne
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der Religion — ich will doch nicht hoffen — verderbe — nein, nur fuͤlle!
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Jn ſo fern alſo immer Wuͤrde, Hoheit der menſchlichen Natur. Glaubensfaͤhigkeit —
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/378>, abgerufen am 16.02.2025.
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