Erstes Fragment. Allgemeine Betrachtungen über Religion und religiose Physiognomien.
Nichts genannter, nichts unbekannter, als -- Religion. Das verständlichste und mißver- standenste aller Wörter.
Religion ... Tugend um Gottes willen? wie Spalding sagt. Ja und nein! alle Tugend um Gottes willen ist Religion; aber nicht alle Religion ist Tugend um Gottes wil- len. Tugend -- wie was ganz anders, als Religion, so sehr sie mit Religion zusammenfließen kann, und soll, und muß! Dennoch läßt sich Tugend ohne Religion, und Religion ohne Tugend -- ohne Tugendhandlungen wenigstens, wo Anlässe fehlen -- -- gedenken. Tugend ist Geistesstärke -- Uebermacht der Vernunft über Leidenschaft. Uebermacht des Rechtgefühls über reizendes Unrecht. Glaube, (aber nicht Glaube an Gottheit oder unsichtbare Welt) Glaube, daß meinem innwendigen Menschen wohler seyn werde, wenn er gewissen reizenden sinnlichen Vergnügungen freywillig entsagt. Stärke des Geistes, die aus die- sem Glauben entspringt, und mir's möglich macht, Vergnügungen, zu denen ich kein anerkanntes Recht fühle, von deren Genuß ich Reue oder Schaden zu befahren Ursache habe, zu entsagen -- ist Tugend.
Der Tugend eigentliche Welt ist die gegenwärtige, die sichtbare; der Tugend, in so fern sie nämlich bloß Tugend, und nicht mit Religion tingirt oder genährt ist. Der Ungläu- bige, der Atheist kann tugendhaft seyn. Er kann's der menschlichen Gesellschaft vortheilhaft fin- den -- und vortheilhaft für sich -- auch bey starken Reizungen zur Ungerechtigkeit, jedem zu ge- ben, was ihm gebührt; keinem zu nehmen, was sein ist. Der ist tugendhaft -- der seinen Zorn mäßigt, bloß um seinem Beleidiger nicht wehe zu thun -- und seiner Gesundheit nicht zu schaden. Stärke des Geistes über das Fleisch ist Tugend.
Und -- Religion? -- Sie kömmt aus der unsichtbaren Welt, und geht in die un- sichtbare Welt. Nicht die Erde, der Himmel ist ihr Quell und Ziel! Nicht, was sichtbar
ist;
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Erſtes Fragment. Allgemeine Betrachtungen uͤber Religion und religioſe Phyſiognomien.
Nichts genannter, nichts unbekannter, als — Religion. Das verſtaͤndlichſte und mißver- ſtandenſte aller Woͤrter.
Religion ... Tugend um Gottes willen? wie Spalding ſagt. Ja und nein! alle Tugend um Gottes willen iſt Religion; aber nicht alle Religion iſt Tugend um Gottes wil- len. Tugend — wie was ganz anders, als Religion, ſo ſehr ſie mit Religion zuſammenfließen kann, und ſoll, und muß! Dennoch laͤßt ſich Tugend ohne Religion, und Religion ohne Tugend — ohne Tugendhandlungen wenigſtens, wo Anlaͤſſe fehlen — — gedenken. Tugend iſt Geiſtesſtaͤrke — Uebermacht der Vernunft uͤber Leidenſchaft. Uebermacht des Rechtgefuͤhls uͤber reizendes Unrecht. Glaube, (aber nicht Glaube an Gottheit oder unſichtbare Welt) Glaube, daß meinem innwendigen Menſchen wohler ſeyn werde, wenn er gewiſſen reizenden ſinnlichen Vergnuͤgungen freywillig entſagt. Staͤrke des Geiſtes, die aus die- ſem Glauben entſpringt, und mir’s moͤglich macht, Vergnuͤgungen, zu denen ich kein anerkanntes Recht fuͤhle, von deren Genuß ich Reue oder Schaden zu befahren Urſache habe, zu entſagen — iſt Tugend.
Der Tugend eigentliche Welt iſt die gegenwaͤrtige, die ſichtbare; der Tugend, in ſo fern ſie naͤmlich bloß Tugend, und nicht mit Religion tingirt oder genaͤhrt iſt. Der Unglaͤu- bige, der Atheiſt kann tugendhaft ſeyn. Er kann’s der menſchlichen Geſellſchaft vortheilhaft fin- den — und vortheilhaft fuͤr ſich — auch bey ſtarken Reizungen zur Ungerechtigkeit, jedem zu ge- ben, was ihm gebuͤhrt; keinem zu nehmen, was ſein iſt. Der iſt tugendhaft — der ſeinen Zorn maͤßigt, bloß um ſeinem Beleidiger nicht wehe zu thun — und ſeiner Geſundheit nicht zu ſchaden. Staͤrke des Geiſtes uͤber das Fleiſch iſt Tugend.
Und — Religion? — Sie koͤmmt aus der unſichtbaren Welt, und geht in die un- ſichtbare Welt. Nicht die Erde, der Himmel iſt ihr Quell und Ziel! Nicht, was ſichtbar
iſt;
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Allgemeine Betrachtungen uͤber Religion und religioſe
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ſtandenſte aller Woͤrter.
Religion ... Tugend um Gottes willen? wie Spalding ſagt. Ja und nein! alle
Tugend um Gottes willen iſt Religion; aber nicht alle Religion iſt Tugend um Gottes wil-
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Tugend — ohne Tugendhandlungen wenigſtens, wo Anlaͤſſe fehlen — — gedenken.
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Recht fuͤhle, von deren Genuß ich Reue oder Schaden zu befahren Urſache habe, zu entſagen —
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Der Tugend eigentliche Welt iſt die gegenwaͤrtige, die ſichtbare; der Tugend,
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/377>, abgerufen am 03.03.2025.
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