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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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IX. Abschnitt. I. Fragment.
ten, darstellten? Schöpfungen, in denen sich die Seele, wie die Gottheit in ihren Werken, er-
spiegelt? Schöpfungen, die der ewige Schöpfer durchregt und durchhaucht -- in denen man, wie
im lebenden und liebenden Antlitz, voll gegossen die lebende und liebende Seele erblickt, lieb gewinnt,
anschmachtet -- verschlingt? Schöpfungen, unangetastet vom Hauche, Ton, Schimmer -- ir-
gend einer Mode, Convention, künstlichen Manier?

Jst selbst der unnachahmliche Homer -- rein von Ton und Manier? -- Wer fühlt
nicht, daß Homer Dichter ist -- wie unter tausenden nicht einer, und daß ers noch mehr wäre --
wenn er nicht so viel Ton und Manier hätte? ..

Aber ist's möglich, ohne Ton und Manier Dichter zu seyn? Bodmer, Geßner,
Ramler, Wieland
-- (doch wenig) Lenz -- (am wenigsten vielleicht) -- Klopstock, Stoll-
berg
-- Dichter, wie kaum eine lebende Nation aufweisen kann -- sind nicht ohne Manier -- Jst's
also möglich -- ohne Manier so zu dichten, in solcher inconventionellen Einfalt und Wahrheit
seine eigene Seele mit allen ihren Wahrnehmungen, Gefühlen, Bewegungen, in seinen Bildun-
gen und Schöpfungen darzustellen und mitzutheilen, wie -- die Sonne Stralen ausstralt -- ohne
Grimasse, und was weiß ich noch mehr? So rein, einfältig, unbefangen, wie man im anmaßungslo-
sesten Zustande für sich hin existirt, und lebt, und athmet, ohne an Zeugen oder Beobachter zu den-
ken? -- -- -- -- -- -- Konnte doch Raphael selbst sich nicht über die blechernen Glorien, die
sein Zeitalter forderte, erheben? -- und ist nicht selbst von seinen erhabensten Werken fern alle
Täuschung?

Wo also wahre, ächte, ganze Dichtung -- wo ist sie? wo ist sie möglich? -- Und --
doch -- Jahrhundert, und Deutschland! hast du einen Mann -- der die unbemerktesten Sichtbar-
keiten, die innigsten Unsichtbarkeiten allgemein verstehbar darstellen konnte -- und kann -- ohne
Ton und Manier
-- du kennst den Namen -- und den Mann. Wär' er nichts als Dichter,
welche Gewinnste für die Physiognomik!

Dennoch wollen wir uns, so zusammengesetzt immer dieses Dichters oder anderer Dichter
Charakter seyn mögen, so schwer es ist, den bloßen Dichter herauszuscheiden -- und -- so un-
möglich der herauszuscheiden ist, weil auch der wieder Resultat aller Empfindungs- und

Würkungs-

IX. Abſchnitt. I. Fragment.
ten, darſtellten? Schoͤpfungen, in denen ſich die Seele, wie die Gottheit in ihren Werken, er-
ſpiegelt? Schoͤpfungen, die der ewige Schoͤpfer durchregt und durchhaucht — in denen man, wie
im lebenden und liebenden Antlitz, voll gegoſſen die lebende und liebende Seele erblickt, lieb gewinnt,
anſchmachtet — verſchlingt? Schoͤpfungen, unangetaſtet vom Hauche, Ton, Schimmer — ir-
gend einer Mode, Convention, kuͤnſtlichen Manier?

Jſt ſelbſt der unnachahmliche Homer — rein von Ton und Manier? — Wer fuͤhlt
nicht, daß Homer Dichter iſt — wie unter tauſenden nicht einer, und daß ers noch mehr waͤre —
wenn er nicht ſo viel Ton und Manier haͤtte? ..

Aber iſt’s moͤglich, ohne Ton und Manier Dichter zu ſeyn? Bodmer, Geßner,
Ramler, Wieland
— (doch wenig) Lenz — (am wenigſten vielleicht) — Klopſtock, Stoll-
berg
— Dichter, wie kaum eine lebende Nation aufweiſen kann — ſind nicht ohne Manier — Jſt’s
alſo moͤglich — ohne Manier ſo zu dichten, in ſolcher inconventionellen Einfalt und Wahrheit
ſeine eigene Seele mit allen ihren Wahrnehmungen, Gefuͤhlen, Bewegungen, in ſeinen Bildun-
gen und Schoͤpfungen darzuſtellen und mitzutheilen, wie — die Sonne Stralen ausſtralt — ohne
Grimaſſe, und was weiß ich noch mehr? So rein, einfaͤltig, unbefangen, wie man im anmaßungslo-
ſeſten Zuſtande fuͤr ſich hin exiſtirt, und lebt, und athmet, ohne an Zeugen oder Beobachter zu den-
ken? — — — — — — Konnte doch Raphael ſelbſt ſich nicht uͤber die blechernen Glorien, die
ſein Zeitalter forderte, erheben? — und iſt nicht ſelbſt von ſeinen erhabenſten Werken fern alle
Taͤuſchung?

Wo alſo wahre, aͤchte, ganze Dichtung — wo iſt ſie? wo iſt ſie moͤglich? — Und —
doch — Jahrhundert, und Deutſchland! haſt du einen Mann — der die unbemerkteſten Sichtbar-
keiten, die innigſten Unſichtbarkeiten allgemein verſtehbar darſtellen konnte — und kann — ohne
Ton und Manier
— du kennſt den Namen — und den Mann. Waͤr’ er nichts als Dichter,
welche Gewinnſte fuͤr die Phyſiognomik!

Dennoch wollen wir uns, ſo zuſammengeſetzt immer dieſes Dichters oder anderer Dichter
Charakter ſeyn moͤgen, ſo ſchwer es iſt, den bloßen Dichter herauszuſcheiden — und — ſo un-
moͤglich der herauszuſcheiden iſt, weil auch der wieder Reſultat aller Empfindungs- und

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[206/0342] IX. Abſchnitt. I. Fragment. ten, darſtellten? Schoͤpfungen, in denen ſich die Seele, wie die Gottheit in ihren Werken, er- ſpiegelt? Schoͤpfungen, die der ewige Schoͤpfer durchregt und durchhaucht — in denen man, wie im lebenden und liebenden Antlitz, voll gegoſſen die lebende und liebende Seele erblickt, lieb gewinnt, anſchmachtet — verſchlingt? Schoͤpfungen, unangetaſtet vom Hauche, Ton, Schimmer — ir- gend einer Mode, Convention, kuͤnſtlichen Manier? Jſt ſelbſt der unnachahmliche Homer — rein von Ton und Manier? — Wer fuͤhlt nicht, daß Homer Dichter iſt — wie unter tauſenden nicht einer, und daß ers noch mehr waͤre — wenn er nicht ſo viel Ton und Manier haͤtte? .. Aber iſt’s moͤglich, ohne Ton und Manier Dichter zu ſeyn? Bodmer, Geßner, Ramler, Wieland — (doch wenig) Lenz — (am wenigſten vielleicht) — Klopſtock, Stoll- berg — Dichter, wie kaum eine lebende Nation aufweiſen kann — ſind nicht ohne Manier — Jſt’s alſo moͤglich — ohne Manier ſo zu dichten, in ſolcher inconventionellen Einfalt und Wahrheit ſeine eigene Seele mit allen ihren Wahrnehmungen, Gefuͤhlen, Bewegungen, in ſeinen Bildun- gen und Schoͤpfungen darzuſtellen und mitzutheilen, wie — die Sonne Stralen ausſtralt — ohne Grimaſſe, und was weiß ich noch mehr? So rein, einfaͤltig, unbefangen, wie man im anmaßungslo- ſeſten Zuſtande fuͤr ſich hin exiſtirt, und lebt, und athmet, ohne an Zeugen oder Beobachter zu den- ken? — — — — — — Konnte doch Raphael ſelbſt ſich nicht uͤber die blechernen Glorien, die ſein Zeitalter forderte, erheben? — und iſt nicht ſelbſt von ſeinen erhabenſten Werken fern alle Taͤuſchung? Wo alſo wahre, aͤchte, ganze Dichtung — wo iſt ſie? wo iſt ſie moͤglich? — Und — doch — Jahrhundert, und Deutſchland! haſt du einen Mann — der die unbemerkteſten Sichtbar- keiten, die innigſten Unſichtbarkeiten allgemein verſtehbar darſtellen konnte — und kann — ohne Ton und Manier — du kennſt den Namen — und den Mann. Waͤr’ er nichts als Dichter, welche Gewinnſte fuͤr die Phyſiognomik! Dennoch wollen wir uns, ſo zuſammengeſetzt immer dieſes Dichters oder anderer Dichter Charakter ſeyn moͤgen, ſo ſchwer es iſt, den bloßen Dichter herauszuſcheiden — und — ſo un- moͤglich der herauszuſcheiden iſt, weil auch der wieder Reſultat aller Empfindungs- und Wuͤrkungs-

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/342>, abgerufen am 22.11.2024.