Laßt uns einige Versuche wagen, über einzelne musikalische Physiognomien -- einige Bemerkun- gen oder Vermuthungen vorzulegen. Wir wollen bey Jomelli anfangen.
"Mit nichten erhabner Kopf des Griechen, wie etwa ein Wortprangender Candidat "der schönen, von den Griechen ererbten, Künste sagen möchte! Auch kein hassenswürdiges Gesicht, "wie's etwa mancher süßlicher Geschmäckler anekeln wird! -- Es ist ein Virtuose aus dem achtzehn- "ten Jahrhundert. Vielleicht in den glücklichen Momenten, wo der Genius in sich selbst sich auf "und niederregt; nichts sieht, nichts hört, nichts fühlt, als sein werdendes Gewebe, an das er "gern mit abgehenden Fäden die Herzen der Untenwohnenden knüpfen möchte -- Sonst aber vor- "liegendes Bild mit menschlichen Namen genennet, Niklas Jomelli. Jn der bürgerlichen Welt "Capellmeister und Director des glänzenden Würtembergischen Orchesters. Seine Opern und son- "stige Werke bewundert die Welt, und adelte ihn dafür: Genie. -- Er bewürkte unter andern "neue Gefühle in den Sterblichen, als er die Brüder der Schattirungen in der Mahlerey, das mu- "sikalische Crescendo und Diminuendo, näher aus Licht zog, und auf Beute ausgehen ließ.
"Jtaliäner und Deutsche, die vor seinen singenden Welten stunden, wollen sich geweidet "haben; sagen ihm nach, daß er die Leidenschaften glücklich auszudrücken gewußt; daß er die Mit- "würkung aller Jnstrumente zu Einem großen Zwecke verstanden; daß er zugethan und "weggeworfen hat -- und dergleichen mehr Gutes wird von ihm gesagt, womit wir aber uns nicht "aufhalten wollen, weil freylich wahr ist, daß man dieß alles nicht aus vorliegendem Porträte sieht. "Jndessen gehört's aber doch auch dazu." --
Des III. Ban- des LVII. Tafel.
Und nun der Physiognomist -- was sagt er zu diesem Kopf? Ein Kopf, der allen- falls Genie ist, wenigstens es seyn kann -- wenig ruhig forschender, stillauseinanderlesen- der Verstand -- Mehr Feuer als Genauheit in seinen Werken; mehr Pomp als Eleganz; mehr hin- reissende Gewalt, als sanft anziehende Zärtlichkeit -- das scheint mir wenigstens dieß Gesicht deut-
lich
B b 3
Muſiker.
Zweytes Fragment.
Niklas Jomelli. Ein großer Kopf ſchattirt.
Laßt uns einige Verſuche wagen, uͤber einzelne muſikaliſche Phyſiognomien — einige Bemerkun- gen oder Vermuthungen vorzulegen. Wir wollen bey Jomelli anfangen.
„Mit nichten erhabner Kopf des Griechen, wie etwa ein Wortprangender Candidat „der ſchoͤnen, von den Griechen ererbten, Kuͤnſte ſagen moͤchte! Auch kein haſſenswuͤrdiges Geſicht, „wie’s etwa mancher ſuͤßlicher Geſchmaͤckler anekeln wird! — Es iſt ein Virtuoſe aus dem achtzehn- „ten Jahrhundert. Vielleicht in den gluͤcklichen Momenten, wo der Genius in ſich ſelbſt ſich auf „und niederregt; nichts ſieht, nichts hoͤrt, nichts fuͤhlt, als ſein werdendes Gewebe, an das er „gern mit abgehenden Faͤden die Herzen der Untenwohnenden knuͤpfen moͤchte — Sonſt aber vor- „liegendes Bild mit menſchlichen Namen genennet, Niklas Jomelli. Jn der buͤrgerlichen Welt „Capellmeiſter und Director des glaͤnzenden Wuͤrtembergiſchen Orcheſters. Seine Opern und ſon- „ſtige Werke bewundert die Welt, und adelte ihn dafuͤr: Genie. — Er bewuͤrkte unter andern „neue Gefuͤhle in den Sterblichen, als er die Bruͤder der Schattirungen in der Mahlerey, das mu- „ſikaliſche Creſcendo und Diminuendo, naͤher aus Licht zog, und auf Beute ausgehen ließ.
„Jtaliaͤner und Deutſche, die vor ſeinen ſingenden Welten ſtunden, wollen ſich geweidet „haben; ſagen ihm nach, daß er die Leidenſchaften gluͤcklich auszudruͤcken gewußt; daß er die Mit- „wuͤrkung aller Jnſtrumente zu Einem großen Zwecke verſtanden; daß er zugethan und „weggeworfen hat — und dergleichen mehr Gutes wird von ihm geſagt, womit wir aber uns nicht „aufhalten wollen, weil freylich wahr iſt, daß man dieß alles nicht aus vorliegendem Portraͤte ſieht. „Jndeſſen gehoͤrt’s aber doch auch dazu.“ —
Des III. Ban- des LVII. Tafel.
Und nun der Phyſiognomiſt — was ſagt er zu dieſem Kopf? Ein Kopf, der allen- falls Genie iſt, wenigſtens es ſeyn kann — wenig ruhig forſchender, ſtillauseinanderleſen- der Verſtand — Mehr Feuer als Genauheit in ſeinen Werken; mehr Pomp als Eleganz; mehr hin- reiſſende Gewalt, als ſanft anziehende Zaͤrtlichkeit — das ſcheint mir wenigſtens dieß Geſicht deut-
lich
B b 3
<TEI><text><body><divn="1"><pbn="197"facs="#f0327"/><fwtype="header"place="top"><hirendition="#b"><hirendition="#g">Muſiker</hi>.</hi></fw><lb/><divn="2"><head><hirendition="#b"><hirendition="#g">Zweytes Fragment</hi>.</hi></head><lb/><divn="3"><head><hirendition="#b"><hirendition="#g">Niklas Jomelli.<lb/>
Ein großer Kopf ſchattirt</hi>.</hi></head><lb/><p><hirendition="#in">L</hi>aßt uns einige Verſuche wagen, uͤber einzelne muſikaliſche Phyſiognomien — einige Bemerkun-<lb/>
gen oder Vermuthungen vorzulegen. Wir wollen bey <hirendition="#fr">Jomelli</hi> anfangen.</p><lb/><cit><quote><p>„Mit nichten <hirendition="#fr">erhabner Kopf des Griechen,</hi> wie etwa ein Wortprangender Candidat<lb/>„der ſchoͤnen, von den Griechen ererbten, Kuͤnſte ſagen moͤchte! Auch kein haſſenswuͤrdiges Geſicht,<lb/>„wie’s etwa mancher ſuͤßlicher Geſchmaͤckler anekeln wird! — Es iſt ein Virtuoſe aus dem achtzehn-<lb/>„ten Jahrhundert. Vielleicht in den gluͤcklichen Momenten, wo der Genius in ſich ſelbſt ſich auf<lb/>„und niederregt; nichts ſieht, nichts hoͤrt, nichts fuͤhlt, als ſein werdendes Gewebe, an das er<lb/>„gern mit abgehenden Faͤden die Herzen der Untenwohnenden knuͤpfen moͤchte — Sonſt aber vor-<lb/>„liegendes Bild mit menſchlichen Namen genennet, <hirendition="#fr">Niklas Jomelli.</hi> Jn der buͤrgerlichen Welt<lb/>„Capellmeiſter und Director des glaͤnzenden Wuͤrtembergiſchen Orcheſters. Seine Opern und ſon-<lb/>„ſtige Werke bewundert die Welt, und adelte ihn dafuͤr: <hirendition="#fr">Genie.</hi>— Er bewuͤrkte unter andern<lb/>„neue Gefuͤhle in den Sterblichen, als er die Bruͤder der Schattirungen in der Mahlerey, das mu-<lb/>„ſikaliſche <hirendition="#aq">Creſcendo</hi> und <hirendition="#aq">Diminuendo,</hi> naͤher aus Licht zog, und auf Beute ausgehen ließ.</p><lb/><p>„Jtaliaͤner und Deutſche, die vor ſeinen ſingenden Welten ſtunden, wollen ſich geweidet<lb/>„haben; ſagen ihm nach, daß er die Leidenſchaften gluͤcklich auszudruͤcken gewußt; daß er die Mit-<lb/>„wuͤrkung aller Jnſtrumente zu <hirendition="#fr">Einem</hi> großen Zwecke verſtanden; daß er zugethan und<lb/>„weggeworfen hat — und dergleichen mehr Gutes wird von ihm geſagt, womit wir aber uns nicht<lb/>„aufhalten wollen, weil freylich wahr iſt, daß man dieß alles nicht aus vorliegendem Portraͤte ſieht.<lb/>„Jndeſſen gehoͤrt’s aber doch auch dazu.“—</p></quote></cit><lb/><noteplace="left">Des <hirendition="#aq">III.</hi> Ban-<lb/>
des <hirendition="#aq">LVII.</hi><lb/>
Tafel.</note><p>Und nun der Phyſiognomiſt — was ſagt er zu dieſem Kopf? Ein Kopf, der allen-<lb/>
falls Genie iſt, wenigſtens es ſeyn kann — wenig ruhig forſchender, ſtillauseinanderleſen-<lb/>
der <hirendition="#fr">Verſtand</hi>— Mehr Feuer als Genauheit in ſeinen Werken; mehr Pomp als Eleganz; mehr hin-<lb/>
reiſſende Gewalt, als ſanft anziehende Zaͤrtlichkeit — das ſcheint mir wenigſtens dieß Geſicht deut-<lb/><fwtype="sig"place="bottom">B b 3</fw><fwtype="catch"place="bottom">lich</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[197/0327]
Muſiker.
Zweytes Fragment.
Niklas Jomelli.
Ein großer Kopf ſchattirt.
Laßt uns einige Verſuche wagen, uͤber einzelne muſikaliſche Phyſiognomien — einige Bemerkun-
gen oder Vermuthungen vorzulegen. Wir wollen bey Jomelli anfangen.
„Mit nichten erhabner Kopf des Griechen, wie etwa ein Wortprangender Candidat
„der ſchoͤnen, von den Griechen ererbten, Kuͤnſte ſagen moͤchte! Auch kein haſſenswuͤrdiges Geſicht,
„wie’s etwa mancher ſuͤßlicher Geſchmaͤckler anekeln wird! — Es iſt ein Virtuoſe aus dem achtzehn-
„ten Jahrhundert. Vielleicht in den gluͤcklichen Momenten, wo der Genius in ſich ſelbſt ſich auf
„und niederregt; nichts ſieht, nichts hoͤrt, nichts fuͤhlt, als ſein werdendes Gewebe, an das er
„gern mit abgehenden Faͤden die Herzen der Untenwohnenden knuͤpfen moͤchte — Sonſt aber vor-
„liegendes Bild mit menſchlichen Namen genennet, Niklas Jomelli. Jn der buͤrgerlichen Welt
„Capellmeiſter und Director des glaͤnzenden Wuͤrtembergiſchen Orcheſters. Seine Opern und ſon-
„ſtige Werke bewundert die Welt, und adelte ihn dafuͤr: Genie. — Er bewuͤrkte unter andern
„neue Gefuͤhle in den Sterblichen, als er die Bruͤder der Schattirungen in der Mahlerey, das mu-
„ſikaliſche Creſcendo und Diminuendo, naͤher aus Licht zog, und auf Beute ausgehen ließ.
„Jtaliaͤner und Deutſche, die vor ſeinen ſingenden Welten ſtunden, wollen ſich geweidet
„haben; ſagen ihm nach, daß er die Leidenſchaften gluͤcklich auszudruͤcken gewußt; daß er die Mit-
„wuͤrkung aller Jnſtrumente zu Einem großen Zwecke verſtanden; daß er zugethan und
„weggeworfen hat — und dergleichen mehr Gutes wird von ihm geſagt, womit wir aber uns nicht
„aufhalten wollen, weil freylich wahr iſt, daß man dieß alles nicht aus vorliegendem Portraͤte ſieht.
„Jndeſſen gehoͤrt’s aber doch auch dazu.“ —
Und nun der Phyſiognomiſt — was ſagt er zu dieſem Kopf? Ein Kopf, der allen-
falls Genie iſt, wenigſtens es ſeyn kann — wenig ruhig forſchender, ſtillauseinanderleſen-
der Verſtand — Mehr Feuer als Genauheit in ſeinen Werken; mehr Pomp als Eleganz; mehr hin-
reiſſende Gewalt, als ſanft anziehende Zaͤrtlichkeit — das ſcheint mir wenigſtens dieß Geſicht deut-
lich
B b 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/327>, abgerufen am 03.03.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.