erst und lange lange nur zu den einfachsten Umrissen, nur zum genauen copieren von Schattenrissen gewöhnt, und bloß in reinen Schattenlosen Contours geübt werden.
Und dann die Sprache! ach! die Sprache! Blut möchte mir oft zu den Fingern heraus- spritzen, daß ich für die Charakterisirung so gar der sinnlichsten Züge, der anschaubarsten Linien -- keine Worte, darstellende Worte finden, keine zu finden hoffen kann. Fern sey's, daß ich damit den würklichen Mangel eigner Sprachfähigkeit entschuldigen, oder decken wolle. Durchaus nicht! Selbst mein mit Recht getadelter Wortreichthum ist, wie man ebenfalls richtig bemerkt hat, wahrer Mangel. Oft könnt' ein anderer, der der Sprache mächtiger und gelehrter ist, gewiß mit Einem Worte sagen, was ich nur mit vieren sagen, oder auch nicht sagen kann. Jch wünschte daher, daß die, welche die Mühe nehmen, diese Fragmente zu beurtheilen, die Gütigkeit haben möchten, statt aller leertönenden Wehklagen, etwa hie und da einen Versuch richtiger und kürzer zu sagen, was ich unrichtig und weitläuftig sage, vorzulegen; mir physiognomische Wörter aus unserer und fremden Sprachen an die Hand zu geben, und mir also würklich brüderlich zu helfen.
23.
XV. Fragment.
Seite 172. "Wer in seinem Leben einmal gesagt hat, oder hätte sagen können: Mir schei- "nen alle Stirnen gleich; ich kann an den Ohren keinen Unterschied bemerken -- oder so was; der "unterstehe sich nie über die Physiognomie ein Wort zu reden" -- Diese letztern Worte sind übereilt, zu hart, und wider die Wahrheit -- Setzet dafür: "der ist noch nicht auf dem Wege, "ein guter Physiognomist zu werden." --
24.
Ueber die zween Köpfe von Raphael Seite 198-200. hat Göthe die meiste. Wahrheit ausgegossen; so ist auch im XVII. Fragmente EE. Seite 245. 246. beynahe ganz von ihm.
25.
XVII. Fragment. T. Seite 220. Setzet anstatt des hier zweydeutigen Wortes Kraft ... Reizbarkeit.
26. W.
I.Fragment.
erſt und lange lange nur zu den einfachſten Umriſſen, nur zum genauen copieren von Schattenriſſen gewoͤhnt, und bloß in reinen Schattenloſen Contours geuͤbt werden.
Und dann die Sprache! ach! die Sprache! Blut moͤchte mir oft zu den Fingern heraus- ſpritzen, daß ich fuͤr die Charakteriſirung ſo gar der ſinnlichſten Zuͤge, der anſchaubarſten Linien — keine Worte, darſtellende Worte finden, keine zu finden hoffen kann. Fern ſey’s, daß ich damit den wuͤrklichen Mangel eigner Sprachfaͤhigkeit entſchuldigen, oder decken wolle. Durchaus nicht! Selbſt mein mit Recht getadelter Wortreichthum iſt, wie man ebenfalls richtig bemerkt hat, wahrer Mangel. Oft koͤnnt’ ein anderer, der der Sprache maͤchtiger und gelehrter iſt, gewiß mit Einem Worte ſagen, was ich nur mit vieren ſagen, oder auch nicht ſagen kann. Jch wuͤnſchte daher, daß die, welche die Muͤhe nehmen, dieſe Fragmente zu beurtheilen, die Guͤtigkeit haben moͤchten, ſtatt aller leertoͤnenden Wehklagen, etwa hie und da einen Verſuch richtiger und kuͤrzer zu ſagen, was ich unrichtig und weitlaͤuftig ſage, vorzulegen; mir phyſiognomiſche Woͤrter aus unſerer und fremden Sprachen an die Hand zu geben, und mir alſo wuͤrklich bruͤderlich zu helfen.
23.
XV. Fragment.
Seite 172. „Wer in ſeinem Leben einmal geſagt hat, oder haͤtte ſagen koͤnnen: Mir ſchei- „nen alle Stirnen gleich; ich kann an den Ohren keinen Unterſchied bemerken — oder ſo was; der „unterſtehe ſich nie uͤber die Phyſiognomie ein Wort zu reden“ — Dieſe letztern Worte ſind uͤbereilt, zu hart, und wider die Wahrheit — Setzet dafuͤr: „der iſt noch nicht auf dem Wege, „ein guter Phyſiognomiſt zu werden.“ —
24.
Ueber die zween Koͤpfe von Raphael Seite 198-200. hat Goͤthe die meiſte. Wahrheit ausgegoſſen; ſo iſt auch im XVII. Fragmente EE. Seite 245. 246. beynahe ganz von ihm.
25.
XVII. Fragment. T. Seite 220. Setzet anſtatt des hier zweydeutigen Wortes Kraft ... Reizbarkeit.
26. W.
<TEI><text><body><divn="2"><divn="3"><p><pbn="16"facs="#f0032"/><fwtype="header"place="top"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">I.</hi><hirendition="#g">Fragment.</hi></hi></fw><lb/>
erſt und lange lange nur zu den einfachſten Umriſſen, nur zum genauen copieren von Schattenriſſen<lb/>
gewoͤhnt, und bloß in reinen Schattenloſen Contours geuͤbt werden.</p><lb/><p>Und dann die Sprache! ach! die Sprache! Blut moͤchte mir oft zu den Fingern heraus-<lb/>ſpritzen, daß ich fuͤr die Charakteriſirung ſo gar der <hirendition="#fr">ſinnlichſten</hi> Zuͤge, der anſchaubarſten Linien —<lb/>
keine Worte, darſtellende Worte finden, keine zu finden hoffen kann. Fern ſey’s, daß ich damit den<lb/>
wuͤrklichen Mangel eigner Sprachfaͤhigkeit entſchuldigen, oder decken wolle. Durchaus nicht!<lb/>
Selbſt mein mit Recht getadelter Wortreichthum iſt, wie man ebenfalls richtig bemerkt hat, wahrer<lb/>
Mangel. Oft koͤnnt’ ein anderer, der der Sprache maͤchtiger und gelehrter iſt, gewiß mit Einem<lb/>
Worte ſagen, was ich nur mit vieren ſagen, oder auch nicht ſagen kann. Jch wuͤnſchte daher,<lb/>
daß die, welche die Muͤhe nehmen, dieſe Fragmente zu beurtheilen, die Guͤtigkeit haben moͤchten,<lb/>ſtatt aller leertoͤnenden Wehklagen, etwa hie und da einen Verſuch richtiger und kuͤrzer zu ſagen,<lb/>
was ich unrichtig und weitlaͤuftig ſage, vorzulegen; mir phyſiognomiſche Woͤrter aus unſerer und<lb/>
fremden Sprachen an die Hand zu geben, und mir alſo wuͤrklich <hirendition="#fr">bruͤderlich</hi> zu helfen.</p></div><lb/><divn="3"><head>23.</head><lb/><p><hirendition="#c"><hirendition="#b"><hirendition="#g"><hirendition="#aq">XV.</hi> Fragment.</hi></hi></hi></p><lb/><p>Seite 172. „Wer in ſeinem Leben einmal geſagt hat, oder haͤtte ſagen koͤnnen: Mir ſchei-<lb/>„nen alle Stirnen gleich; ich kann an den Ohren keinen Unterſchied bemerken — oder ſo was; <hirendition="#fr">der<lb/>„unterſtehe ſich nie uͤber die Phyſiognomie ein Wort zu reden</hi>“— Dieſe letztern Worte<lb/>ſind uͤbereilt, zu hart, und wider die Wahrheit — Setzet dafuͤr: „der iſt noch nicht auf dem Wege,<lb/>„ein guter Phyſiognomiſt zu werden.“—</p></div><lb/><divn="3"><head>24.</head><lb/><p>Ueber die zween Koͤpfe von <hirendition="#fr">Raphael</hi> Seite 198-200. hat <hirendition="#fr">Goͤthe</hi> die meiſte. Wahrheit<lb/>
ausgegoſſen; ſo iſt auch im <hirendition="#aq">XVII.</hi> Fragmente <hirendition="#aq">EE.</hi> Seite 245. 246. beynahe ganz von ihm.</p></div><lb/><divn="3"><head>25.</head><lb/><p><hirendition="#aq">XVII.</hi> Fragment. <hirendition="#aq">T.</hi> Seite 220. Setzet anſtatt des hier zweydeutigen Wortes <hirendition="#fr">Kraft ...<lb/>
Reizbarkeit.</hi></p></div><lb/><fwtype="catch"place="bottom">26. W.</fw><lb/></div></body></text></TEI>
[16/0032]
I. Fragment.
erſt und lange lange nur zu den einfachſten Umriſſen, nur zum genauen copieren von Schattenriſſen
gewoͤhnt, und bloß in reinen Schattenloſen Contours geuͤbt werden.
Und dann die Sprache! ach! die Sprache! Blut moͤchte mir oft zu den Fingern heraus-
ſpritzen, daß ich fuͤr die Charakteriſirung ſo gar der ſinnlichſten Zuͤge, der anſchaubarſten Linien —
keine Worte, darſtellende Worte finden, keine zu finden hoffen kann. Fern ſey’s, daß ich damit den
wuͤrklichen Mangel eigner Sprachfaͤhigkeit entſchuldigen, oder decken wolle. Durchaus nicht!
Selbſt mein mit Recht getadelter Wortreichthum iſt, wie man ebenfalls richtig bemerkt hat, wahrer
Mangel. Oft koͤnnt’ ein anderer, der der Sprache maͤchtiger und gelehrter iſt, gewiß mit Einem
Worte ſagen, was ich nur mit vieren ſagen, oder auch nicht ſagen kann. Jch wuͤnſchte daher,
daß die, welche die Muͤhe nehmen, dieſe Fragmente zu beurtheilen, die Guͤtigkeit haben moͤchten,
ſtatt aller leertoͤnenden Wehklagen, etwa hie und da einen Verſuch richtiger und kuͤrzer zu ſagen,
was ich unrichtig und weitlaͤuftig ſage, vorzulegen; mir phyſiognomiſche Woͤrter aus unſerer und
fremden Sprachen an die Hand zu geben, und mir alſo wuͤrklich bruͤderlich zu helfen.
23.
XV. Fragment.
Seite 172. „Wer in ſeinem Leben einmal geſagt hat, oder haͤtte ſagen koͤnnen: Mir ſchei-
„nen alle Stirnen gleich; ich kann an den Ohren keinen Unterſchied bemerken — oder ſo was; der
„unterſtehe ſich nie uͤber die Phyſiognomie ein Wort zu reden“ — Dieſe letztern Worte
ſind uͤbereilt, zu hart, und wider die Wahrheit — Setzet dafuͤr: „der iſt noch nicht auf dem Wege,
„ein guter Phyſiognomiſt zu werden.“ —
24.
Ueber die zween Koͤpfe von Raphael Seite 198-200. hat Goͤthe die meiſte. Wahrheit
ausgegoſſen; ſo iſt auch im XVII. Fragmente EE. Seite 245. 246. beynahe ganz von ihm.
25.
XVII. Fragment. T. Seite 220. Setzet anſtatt des hier zweydeutigen Wortes Kraft ...
Reizbarkeit.
26. W.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/32>, abgerufen am 03.03.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.