Vortreffliches Gesichtgen -- und so bestimmt redend, so unverwirrt physiognomisch, wie möglich.
Das Ganze, stiller Adel, Reinheit, Gleichheit, Sanftheit, nicht fade -- Glattheit. Die Stirn -- nur verständig, heiter, überlegend -- aber auch mehr nicht. Mehr wäre sie -- wenn sie oben mehr sich zurücksenkte; obenher entweder gebogner oder gerader wäre. Der Uebergang von der Stirne zur Nase -- wenn's nicht mißdeutet würde, denn ich habe gewiß große Hochachtung für den vortrefflichen Mann -- ich würde sagen: Hier der Sitz seiner Mißzeichnungen! Hier die Quelle von der unüberlegten Länge beynah aller seiner, besonders sitzenden Figuren. Das Auge -- vielsehend, hellsehend -- ein treffliches, alle Umrisse bestimmendes, Licht und Schatten ordnendes -- Fernglas -- eine lebendige Camera obscura; ein herrlich glückliches Mittel zwischen vordringen- dem Feuer -- und bloß leidsamer Empfänglichkeit. -- Aber dann die herrliche, engelreine Nase! wer die nicht fühlt, hier nicht gestehen muß -- Nase ist einer der redendsten Theile des Gesichtes -- gewiß das Edelste, Vortheilhafteste, Beste in dem gegenwärtigen Gesichte -- wenn alles andere zugedeckt würde, für sich allein redend -- und was redend: "Jch bin der wenigen Edeln, der Aus- "erwählten Einer, die Sinn haben zu sehen die Herrlichkeit des Herrn in seinen Wegen und "Werken. --
Bis zum Nasenloche geht der reinste Ausdruck von Geist -- Er sinkt schon, erlöscht schon ein wenig unter der Nase; nicht daß der Umriß unedel werde; aber er sinkt von Größe gegen Mit- telmäßigkeit herab. Jm Munde -- reinweibliche Sanftheit und denkender Geschmack -- und viel edler als in allen übrigen Porträten, die man von ihm hat. Das Kinn -- voll weiblicher Gutheit.
Gestalt und Stellung -- vollkommen in der Harmonie mit dem Ganzen -- Gestalt und Stellung eines Gestalten still in sich trinkenden Sehers.
Siebentes
VII. Abſchnitt. VI. Fragment.
Benjamin Weſt im Profile.b.
Des III. Ban- des LI. Tafel.
Vortreffliches Geſichtgen — und ſo beſtimmt redend, ſo unverwirrt phyſiognomiſch, wie moͤglich.
Das Ganze, ſtiller Adel, Reinheit, Gleichheit, Sanftheit, nicht fade — Glattheit. Die Stirn — nur verſtaͤndig, heiter, uͤberlegend — aber auch mehr nicht. Mehr waͤre ſie — wenn ſie oben mehr ſich zuruͤckſenkte; obenher entweder gebogner oder gerader waͤre. Der Uebergang von der Stirne zur Naſe — wenn’s nicht mißdeutet wuͤrde, denn ich habe gewiß große Hochachtung fuͤr den vortrefflichen Mann — ich wuͤrde ſagen: Hier der Sitz ſeiner Mißzeichnungen! Hier die Quelle von der unuͤberlegten Laͤnge beynah aller ſeiner, beſonders ſitzenden Figuren. Das Auge — vielſehend, hellſehend — ein treffliches, alle Umriſſe beſtimmendes, Licht und Schatten ordnendes — Fernglas — eine lebendige Camera obſcura; ein herrlich gluͤckliches Mittel zwiſchen vordringen- dem Feuer — und bloß leidſamer Empfaͤnglichkeit. — Aber dann die herrliche, engelreine Naſe! wer die nicht fuͤhlt, hier nicht geſtehen muß — Naſe iſt einer der redendſten Theile des Geſichtes — gewiß das Edelſte, Vortheilhafteſte, Beſte in dem gegenwaͤrtigen Geſichte — wenn alles andere zugedeckt wuͤrde, fuͤr ſich allein redend — und was redend: „Jch bin der wenigen Edeln, der Aus- „erwaͤhlten Einer, die Sinn haben zu ſehen die Herrlichkeit des Herrn in ſeinen Wegen und „Werken. —
Bis zum Naſenloche geht der reinſte Ausdruck von Geiſt — Er ſinkt ſchon, erloͤſcht ſchon ein wenig unter der Naſe; nicht daß der Umriß unedel werde; aber er ſinkt von Groͤße gegen Mit- telmaͤßigkeit herab. Jm Munde — reinweibliche Sanftheit und denkender Geſchmack — und viel edler als in allen uͤbrigen Portraͤten, die man von ihm hat. Das Kinn — voll weiblicher Gutheit.
Geſtalt und Stellung — vollkommen in der Harmonie mit dem Ganzen — Geſtalt und Stellung eines Geſtalten ſtill in ſich trinkenden Sehers.
Siebentes
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VII. Abſchnitt. VI. Fragment.
Benjamin Weſt im Profile. b.
Vortreffliches Geſichtgen — und ſo beſtimmt redend, ſo unverwirrt phyſiognomiſch,
wie moͤglich.
Das Ganze, ſtiller Adel, Reinheit, Gleichheit, Sanftheit, nicht fade — Glattheit. Die
Stirn — nur verſtaͤndig, heiter, uͤberlegend — aber auch mehr nicht. Mehr waͤre ſie — wenn ſie
oben mehr ſich zuruͤckſenkte; obenher entweder gebogner oder gerader waͤre. Der Uebergang von
der Stirne zur Naſe — wenn’s nicht mißdeutet wuͤrde, denn ich habe gewiß große Hochachtung
fuͤr den vortrefflichen Mann — ich wuͤrde ſagen: Hier der Sitz ſeiner Mißzeichnungen! Hier die
Quelle von der unuͤberlegten Laͤnge beynah aller ſeiner, beſonders ſitzenden Figuren. Das Auge —
vielſehend, hellſehend — ein treffliches, alle Umriſſe beſtimmendes, Licht und Schatten ordnendes —
Fernglas — eine lebendige Camera obſcura; ein herrlich gluͤckliches Mittel zwiſchen vordringen-
dem Feuer — und bloß leidſamer Empfaͤnglichkeit. — Aber dann die herrliche, engelreine Naſe!
wer die nicht fuͤhlt, hier nicht geſtehen muß — Naſe iſt einer der redendſten Theile des Geſichtes —
gewiß das Edelſte, Vortheilhafteſte, Beſte in dem gegenwaͤrtigen Geſichte — wenn alles andere
zugedeckt wuͤrde, fuͤr ſich allein redend — und was redend: „Jch bin der wenigen Edeln, der Aus-
„erwaͤhlten Einer, die Sinn haben zu ſehen die Herrlichkeit des Herrn in ſeinen Wegen und
„Werken. —
Bis zum Naſenloche geht der reinſte Ausdruck von Geiſt — Er ſinkt ſchon, erloͤſcht ſchon
ein wenig unter der Naſe; nicht daß der Umriß unedel werde; aber er ſinkt von Groͤße gegen Mit-
telmaͤßigkeit herab. Jm Munde — reinweibliche Sanftheit und denkender Geſchmack — und viel
edler als in allen uͤbrigen Portraͤten, die man von ihm hat. Das Kinn — voll weiblicher
Gutheit.
Geſtalt und Stellung — vollkommen in der Harmonie mit dem Ganzen — Geſtalt und
Stellung eines Geſtalten ſtill in ſich trinkenden Sehers.
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/296>, abgerufen am 03.03.2025.
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