Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.I. Fragment. leuchten anfieng -- so verschönert sich gewiß jedes Menschen Angesicht -- es sey schön oder häßlich,unmittelbar in den Stunden reiner, brünstiger, himmelstrebender Andacht. Vom innern Geiste des Menschen, der sich im Gefühle der Gottheit -- oder in lebendigen Trieben uneigennütziger Menschenliebe regt, quillen Farben und geistige Bewegungen der zärtlichen Muskeln, die über das menschliche Angesicht solche Annehmlichkeiten verbreiten, wie die untergehende Sonne liebliche Abendröthe über zarte zerstreute Wolken. Mir ist's nichts als höherer Grad oder mehreres Maaß physiognomischer Salbung -- 12. IX. Fragment. 2. Zugabe. Judas nach Hohlbein. "So ein Gesicht kann's keine Woche in Christus Gesellschaft aushalten" -- Nicht etwa, mit
I. Fragment. leuchten anfieng — ſo verſchoͤnert ſich gewiß jedes Menſchen Angeſicht — es ſey ſchoͤn oder haͤßlich,unmittelbar in den Stunden reiner, bruͤnſtiger, himmelſtrebender Andacht. Vom innern Geiſte des Menſchen, der ſich im Gefuͤhle der Gottheit — oder in lebendigen Trieben uneigennuͤtziger Menſchenliebe regt, quillen Farben und geiſtige Bewegungen der zaͤrtlichen Muskeln, die uͤber das menſchliche Angeſicht ſolche Annehmlichkeiten verbreiten, wie die untergehende Sonne liebliche Abendroͤthe uͤber zarte zerſtreute Wolken. Mir iſt’s nichts als hoͤherer Grad oder mehreres Maaß phyſiognomiſcher Salbung — 12. IX. Fragment. 2. Zugabe. Judas nach Hohlbein. „So ein Geſicht kann’s keine Woche in Chriſtus Geſellſchaft aushalten“ — Nicht etwa, mit
<TEI> <text> <body> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0028" n="12"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I.</hi><hi rendition="#g">Fragment.</hi></hi></fw><lb/> leuchten anfieng — ſo verſchoͤnert ſich gewiß jedes Menſchen Angeſicht — es ſey ſchoͤn oder haͤßlich,<lb/> unmittelbar in den Stunden reiner, bruͤnſtiger, himmelſtrebender Andacht. Vom innern Geiſte<lb/> des Menſchen, der ſich im Gefuͤhle der Gottheit — oder in lebendigen Trieben uneigennuͤtziger<lb/> Menſchenliebe regt, quillen Farben und geiſtige Bewegungen der zaͤrtlichen Muskeln, die uͤber das<lb/> menſchliche Angeſicht ſolche Annehmlichkeiten verbreiten, wie die untergehende Sonne liebliche<lb/> Abendroͤthe uͤber zarte zerſtreute Wolken.</p><lb/> <p>Mir iſt’s nichts als hoͤherer Grad oder mehreres Maaß phyſiognomiſcher <hi rendition="#fr">Salbung</hi> —<lb/> oder wenn dieſer Ausdruck unſern unſinnlichen Philoſophen nicht recht iſt, natuͤrliche Wuͤrkung —<lb/> natuͤrlicher Urſache, daß Stephanus Angeſicht ward wie das Angeſicht eines Engels; die vom<lb/> Geiſte des Himmels geſalbte Seele duftete ihre Wohlgeruͤche durch alle Punkte ihres Angeſichtes,<lb/> in dem ſie ſich regte. So iſt mir, wenn die Geſchichte wahr iſt, der Lichtſchein und der Wohlge-<lb/> ruch <hi rendition="#fr">Thaddaͤus</hi> vor <hi rendition="#fr">Abgarus,</hi> dem Koͤnige zu <hi rendition="#fr">Edeßa,</hi> begreiflich, wenigſtens als Poeſie der<lb/> Phyſiognomik. — So iſt mir ſo gar die Verklaͤrung unſers Herrn auf Tabor, phyſiognomiſch er-<lb/> klaͤrbar — Wenigſtens moͤcht’ ich einen im Geiſte Jeſu Nachtdurchwachenden Beter ſehen, auf<lb/> dem kein daͤmmernder Stral ſeiner Verklaͤrung ruhte. Gewiß an meiner Exiſtenz werd’ ich zwei-<lb/> feln, wenn ich daran zweifeln werde. Tugend und Religion verſchoͤnern das menſchliche Ange-<lb/> ſicht in demſelben Grade — wie Laſter und Jrreligion daſſelbe verhaͤßlichen.</p> </div><lb/> <div n="3"> <head>12.</head><lb/> <p> <hi rendition="#c"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">IX.</hi> Fragment. 2. Zugabe. Judas nach Hohlbein.<lb/> Seite</hi> 80.</hi> </p><lb/> <p>„So ein Geſicht kann’s keine Woche in Chriſtus Geſellſchaft aushalten“ — Nicht etwa,<lb/> wie abgeſchmackter Spottgeiſt es laͤcherlich auslegt — „wegen gewiſſer heterogeniſcher Ausfluͤſſe<lb/> „aus Chriſtus.“ Daran dachte ich hierbey ganz und gar nicht. Sondern ich rede ganz phyſiogno-<lb/> miſch. Es iſt die auffallendſte weltbekannteſte Sache, die zu laͤugnen ſchlechtweg Unverſchaͤmtheit<lb/> iſt; gewiſſe Geſichter koͤnnen neben gewiſſen Geſichtern nicht freywillig lange coexiſtieren. Jch we-<lb/> nigſtens wuͤrde gewiß in der Geſellſchaft eines lebendigen Geſichtes, wie unſers Judas iſt, keine<lb/> Viertelſtunde aushalten koͤnnen, ohne ohnmaͤchtig zu werden; und es begegnet mir wenigſtens alle<lb/> Jahre dreymal, daß ich mich von gewiſſen Geſichtern wegwenden, und wenn ich in einem Zimmer<lb/> <fw place="bottom" type="catch">mit</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [12/0028]
I. Fragment.
leuchten anfieng — ſo verſchoͤnert ſich gewiß jedes Menſchen Angeſicht — es ſey ſchoͤn oder haͤßlich,
unmittelbar in den Stunden reiner, bruͤnſtiger, himmelſtrebender Andacht. Vom innern Geiſte
des Menſchen, der ſich im Gefuͤhle der Gottheit — oder in lebendigen Trieben uneigennuͤtziger
Menſchenliebe regt, quillen Farben und geiſtige Bewegungen der zaͤrtlichen Muskeln, die uͤber das
menſchliche Angeſicht ſolche Annehmlichkeiten verbreiten, wie die untergehende Sonne liebliche
Abendroͤthe uͤber zarte zerſtreute Wolken.
Mir iſt’s nichts als hoͤherer Grad oder mehreres Maaß phyſiognomiſcher Salbung —
oder wenn dieſer Ausdruck unſern unſinnlichen Philoſophen nicht recht iſt, natuͤrliche Wuͤrkung —
natuͤrlicher Urſache, daß Stephanus Angeſicht ward wie das Angeſicht eines Engels; die vom
Geiſte des Himmels geſalbte Seele duftete ihre Wohlgeruͤche durch alle Punkte ihres Angeſichtes,
in dem ſie ſich regte. So iſt mir, wenn die Geſchichte wahr iſt, der Lichtſchein und der Wohlge-
ruch Thaddaͤus vor Abgarus, dem Koͤnige zu Edeßa, begreiflich, wenigſtens als Poeſie der
Phyſiognomik. — So iſt mir ſo gar die Verklaͤrung unſers Herrn auf Tabor, phyſiognomiſch er-
klaͤrbar — Wenigſtens moͤcht’ ich einen im Geiſte Jeſu Nachtdurchwachenden Beter ſehen, auf
dem kein daͤmmernder Stral ſeiner Verklaͤrung ruhte. Gewiß an meiner Exiſtenz werd’ ich zwei-
feln, wenn ich daran zweifeln werde. Tugend und Religion verſchoͤnern das menſchliche Ange-
ſicht in demſelben Grade — wie Laſter und Jrreligion daſſelbe verhaͤßlichen.
12.
IX. Fragment. 2. Zugabe. Judas nach Hohlbein.
Seite 80.
„So ein Geſicht kann’s keine Woche in Chriſtus Geſellſchaft aushalten“ — Nicht etwa,
wie abgeſchmackter Spottgeiſt es laͤcherlich auslegt — „wegen gewiſſer heterogeniſcher Ausfluͤſſe
„aus Chriſtus.“ Daran dachte ich hierbey ganz und gar nicht. Sondern ich rede ganz phyſiogno-
miſch. Es iſt die auffallendſte weltbekannteſte Sache, die zu laͤugnen ſchlechtweg Unverſchaͤmtheit
iſt; gewiſſe Geſichter koͤnnen neben gewiſſen Geſichtern nicht freywillig lange coexiſtieren. Jch we-
nigſtens wuͤrde gewiß in der Geſellſchaft eines lebendigen Geſichtes, wie unſers Judas iſt, keine
Viertelſtunde aushalten koͤnnen, ohne ohnmaͤchtig zu werden; und es begegnet mir wenigſtens alle
Jahre dreymal, daß ich mich von gewiſſen Geſichtern wegwenden, und wenn ich in einem Zimmer
mit
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |