sich beschweren, legt man Fakta der Natur dem Philosophen vor -- denn was ist ein Philosoph anders, als ein Naturforscher -- also ... u. s. w.
Genug -- Es ist schlechterdings unläugbar; es ist ein dreyfaches Leben im Menschen vor- handen, welches ganz verschiedener Nahrung bedarf.
Wie man aber aus dieser Behauptung Materialismus folgern konnte, weiß ich nicht. Jn unzähligen Stellen der Physiognomik und aller meiner Schriften hab' ich so oft das möglichste Gegentheil des Materialismus behauptet. Nirgends entscheidender, als gerade in diesem V. Fragmente.
"Jeder Zweig dieses dreyfachen Lebens rührt von Einem Geiste her. Wie oft unter- "scheid' ich das Belebende und das Belebte -- Geist und Materie!"
Wahr ist's, ich sage Seite 35. 36. "Jedes von diesen Leben entsteht und vergeht mit dem "ihm angewiesenen Organum -- Alles an dem Menschen ist, bloßen, klaren Beobachtungen zu- "folge -- physisch. Der Mensch ist im Ganzen, ist in allen seinen Theilen, nach allen seinen "Kräften und Eigenschaften, ein bloß physisches Wesen -- aber ich setze hinzu: Jn so fern er "beobachtet werden kann .. Setze hinzu -- So weit nämlich unsere bisherigen Beobach- "tungen reichen; ich sage Beobachtungen, denn, was philosophische Vermuthungen, oder "göttliche Offenbarungen uns weiter hierüber mehr oder weniger klar und bestimmt sagen, das läßt "der bloß beobachtende Naturforscher als solcher auf der Seite." -- Jch bitte um nichts, als um redliche Anführung meiner Worte -- um ganzes Anhören. Uebrigens gesteh' ich gern, daß ich nicht an irgend einen bisher bekannten Begriff -- oder angenommenes System von der Seele glaube; daß mir alles -- der Materialismus -- und der ganze Wolfianismus hierüber ge- rade gleich abgeschmackt vorkommen; daß ich unter keinem von diesen beyden wählen möchte; noch mehr, daß ich gar kein System hierüber habe, und keines haben will, und es für schlechterdings unmöglich halte, ein wahres haben zu können. So wenig das Auge sich selber unmittelbar und ohne Spiegel sehen kann; so wenig glaub' ich, kann mein unsichtbares Jch von sich selbst, seiner metaphysischen Natur, den mindesten wahren Begriff haben! Es kann sich nur empfinden -- nur mit andern Wesen vergleichen; nur sagen -- "ich -- bin nicht das Auge, das Ohr; ich bin noch, "wenn man mir Aug' und Ohr, Hand und Fuß nimmt" -- Jch bin fest überzeugt, daß kein
Mensch,
I.Fragment.
ſich beſchweren, legt man Fakta der Natur dem Philoſophen vor — denn was iſt ein Philoſoph anders, als ein Naturforſcher — alſo ... u. ſ. w.
Genug — Es iſt ſchlechterdings unlaͤugbar; es iſt ein dreyfaches Leben im Menſchen vor- handen, welches ganz verſchiedener Nahrung bedarf.
Wie man aber aus dieſer Behauptung Materialismus folgern konnte, weiß ich nicht. Jn unzaͤhligen Stellen der Phyſiognomik und aller meiner Schriften hab’ ich ſo oft das moͤglichſte Gegentheil des Materialismus behauptet. Nirgends entſcheidender, als gerade in dieſem V. Fragmente.
„Jeder Zweig dieſes dreyfachen Lebens ruͤhrt von Einem Geiſte her. Wie oft unter- „ſcheid’ ich das Belebende und das Belebte — Geiſt und Materie!“
Wahr iſt’s, ich ſage Seite 35. 36. „Jedes von dieſen Leben entſteht und vergeht mit dem „ihm angewieſenen Organum — Alles an dem Menſchen iſt, bloßen, klaren Beobachtungen zu- „folge — phyſiſch. Der Menſch iſt im Ganzen, iſt in allen ſeinen Theilen, nach allen ſeinen „Kraͤften und Eigenſchaften, ein bloß phyſiſches Weſen — aber ich ſetze hinzu: Jn ſo fern er „beobachtet werden kann .. Setze hinzu — So weit naͤmlich unſere bisherigen Beobach- „tungen reichen; ich ſage Beobachtungen, denn, was philoſophiſche Vermuthungen, oder „goͤttliche Offenbarungen uns weiter hieruͤber mehr oder weniger klar und beſtimmt ſagen, das laͤßt „der bloß beobachtende Naturforſcher als ſolcher auf der Seite.“ — Jch bitte um nichts, als um redliche Anfuͤhrung meiner Worte — um ganzes Anhoͤren. Uebrigens geſteh’ ich gern, daß ich nicht an irgend einen bisher bekannten Begriff — oder angenommenes Syſtem von der Seele glaube; daß mir alles — der Materialismus — und der ganze Wolfianismus hieruͤber ge- rade gleich abgeſchmackt vorkommen; daß ich unter keinem von dieſen beyden waͤhlen moͤchte; noch mehr, daß ich gar kein Syſtem hieruͤber habe, und keines haben will, und es fuͤr ſchlechterdings unmoͤglich halte, ein wahres haben zu koͤnnen. So wenig das Auge ſich ſelber unmittelbar und ohne Spiegel ſehen kann; ſo wenig glaub’ ich, kann mein unſichtbares Jch von ſich ſelbſt, ſeiner metaphyſiſchen Natur, den mindeſten wahren Begriff haben! Es kann ſich nur empfinden — nur mit andern Weſen vergleichen; nur ſagen — „ich — bin nicht das Auge, das Ohr; ich bin noch, „wenn man mir Aug’ und Ohr, Hand und Fuß nimmt“ — Jch bin feſt uͤberzeugt, daß kein
Menſch,
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I. Fragment.
ſich beſchweren, legt man Fakta der Natur dem Philoſophen vor — denn was iſt ein Philoſoph
anders, als ein Naturforſcher — alſo ... u. ſ. w.
Genug — Es iſt ſchlechterdings unlaͤugbar; es iſt ein dreyfaches Leben im Menſchen vor-
handen, welches ganz verſchiedener Nahrung bedarf.
Wie man aber aus dieſer Behauptung Materialismus folgern konnte, weiß ich nicht.
Jn unzaͤhligen Stellen der Phyſiognomik und aller meiner Schriften hab’ ich ſo oft das moͤglichſte
Gegentheil des Materialismus behauptet. Nirgends entſcheidender, als gerade in dieſem V.
Fragmente.
„Jeder Zweig dieſes dreyfachen Lebens ruͤhrt von Einem Geiſte her. Wie oft unter-
„ſcheid’ ich das Belebende und das Belebte — Geiſt und Materie!“
Wahr iſt’s, ich ſage Seite 35. 36. „Jedes von dieſen Leben entſteht und vergeht mit dem
„ihm angewieſenen Organum — Alles an dem Menſchen iſt, bloßen, klaren Beobachtungen zu-
„folge — phyſiſch. Der Menſch iſt im Ganzen, iſt in allen ſeinen Theilen, nach allen ſeinen
„Kraͤften und Eigenſchaften, ein bloß phyſiſches Weſen — aber ich ſetze hinzu: Jn ſo fern er
„beobachtet werden kann .. Setze hinzu — So weit naͤmlich unſere bisherigen Beobach-
„tungen reichen; ich ſage Beobachtungen, denn, was philoſophiſche Vermuthungen, oder
„goͤttliche Offenbarungen uns weiter hieruͤber mehr oder weniger klar und beſtimmt ſagen, das laͤßt
„der bloß beobachtende Naturforſcher als ſolcher auf der Seite.“ — Jch bitte um nichts,
als um redliche Anfuͤhrung meiner Worte — um ganzes Anhoͤren. Uebrigens geſteh’ ich gern,
daß ich nicht an irgend einen bisher bekannten Begriff — oder angenommenes Syſtem von der
Seele glaube; daß mir alles — der Materialismus — und der ganze Wolfianismus hieruͤber ge-
rade gleich abgeſchmackt vorkommen; daß ich unter keinem von dieſen beyden waͤhlen moͤchte; noch
mehr, daß ich gar kein Syſtem hieruͤber habe, und keines haben will, und es fuͤr ſchlechterdings
unmoͤglich halte, ein wahres haben zu koͤnnen. So wenig das Auge ſich ſelber unmittelbar und
ohne Spiegel ſehen kann; ſo wenig glaub’ ich, kann mein unſichtbares Jch von ſich ſelbſt, ſeiner
metaphyſiſchen Natur, den mindeſten wahren Begriff haben! Es kann ſich nur empfinden — nur
mit andern Weſen vergleichen; nur ſagen — „ich — bin nicht das Auge, das Ohr; ich bin noch,
„wenn man mir Aug’ und Ohr, Hand und Fuß nimmt“ — Jch bin feſt uͤberzeugt, daß kein
Menſch,
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/24>, abgerufen am 16.02.2025.
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