V. Abschnitt. I. Fragment. Ueber den menschlichen Mund.
Warum wir das nicht sehen, was an uns ist? und nicht genießen uns selbst? nicht rück- kehren vom Anblicke des allredenden Mundes unsers Bruders, unserer Schwester zum Wonne- gefühl -- "Auch mir ist ein Mund gegeben?"
O Menschheit! wie bist du gesimken!
O ewiges Leben -- -- wie mir seyn wird, wenn ich im Angesichte Christus den Mund der Gottheit mit meinen Augen sehen und aufjauchzend fühlen werde -- "Auch ich hab' einen Mund, "Ebenbild dessen, den ich anbete, empfangen! -- den kann ich nennen -- der mir ihn gab -- O "ewiges Leben im bloßen Gedanken!" --
Mahler und Bildner! -- wie soll ich Euch erflehen, dieß heilige Organon -- zu stu- dieren in allen seinen feinen Zügen, aller seiner Harmonie und Proportion?
Uebergießt manchen charakteristischen Mund lebender und todter Menschen mit dem feinsten Gips, und formirt darnach, und zeichnet darnach, und lernt daran beobachten -- Studiert erst Tage lang Einen; und ihr habt, so mannichfaltig sie seyn mögen, unzählige studiert! -- Aber verzeiht mir; mein Herz ist gepreßt; warum? Jn drey Jahren unter 10. bis 20. Arbeitern, de- nen ich vorpredigte, vorwies, vorzeichnete -- hab' ich den noch nicht gefunden, der, nicht etwa das Fühlbare gefühlt, nur das Anschaubare gesehen, ergriffen und dargestellt hätte -- was soll ich hoffen?
Alles, was ich erwarten kann, erwart' ich von den so leicht möglichen charakteristischen Gipsabgüssen -- Nur einmal ein Cabinet solcher gesammelt -- Aber! die Würkungen allzuge- nauer, sicherer Beobachtungen wären vielleicht zuweitgreifend! Die Maschine der Menschheit schwünge sich zu schnell! Die Welt möcht's nicht tragen -- drum will die Fürsehung, daß man mit sehenden Augen nicht sehe. Beynahe mit einer Thrän' im Auge sag ich's! -- warum ich wei- nen möchte -- Mitahnder der Menschenwürde! du weißt's! -- Und ihr schwächere dennoch lie- be -- hier nicht fühlende Leser -- verzeiht mir!
Hier einige Tafeln mit Mundstücken. --
Zweytes
V. Abſchnitt. I. Fragment. Ueber den menſchlichen Mund.
Warum wir das nicht ſehen, was an uns iſt? und nicht genießen uns ſelbſt? nicht ruͤck- kehren vom Anblicke des allredenden Mundes unſers Bruders, unſerer Schweſter zum Wonne- gefuͤhl — „Auch mir iſt ein Mund gegeben?“
O Menſchheit! wie biſt du geſimken!
O ewiges Leben — — wie mir ſeyn wird, wenn ich im Angeſichte Chriſtus den Mund der Gottheit mit meinen Augen ſehen und aufjauchzend fuͤhlen werde — „Auch ich hab’ einen Mund, „Ebenbild deſſen, den ich anbete, empfangen! — den kann ich nennen — der mir ihn gab — O „ewiges Leben im bloßen Gedanken!“ —
Mahler und Bildner! — wie ſoll ich Euch erflehen, dieß heilige Organon — zu ſtu- dieren in allen ſeinen feinen Zuͤgen, aller ſeiner Harmonie und Proportion?
Uebergießt manchen charakteriſtiſchen Mund lebender und todter Menſchen mit dem feinſten Gips, und formirt darnach, und zeichnet darnach, und lernt daran beobachten — Studiert erſt Tage lang Einen; und ihr habt, ſo mannichfaltig ſie ſeyn moͤgen, unzaͤhlige ſtudiert! — Aber verzeiht mir; mein Herz iſt gepreßt; warum? Jn drey Jahren unter 10. bis 20. Arbeitern, de- nen ich vorpredigte, vorwies, vorzeichnete — hab’ ich den noch nicht gefunden, der, nicht etwa das Fuͤhlbare gefuͤhlt, nur das Anſchaubare geſehen, ergriffen und dargeſtellt haͤtte — was ſoll ich hoffen?
Alles, was ich erwarten kann, erwart’ ich von den ſo leicht moͤglichen charakteriſtiſchen Gipsabguͤſſen — Nur einmal ein Cabinet ſolcher geſammelt — Aber! die Wuͤrkungen allzuge- nauer, ſicherer Beobachtungen waͤren vielleicht zuweitgreifend! Die Maſchine der Menſchheit ſchwuͤnge ſich zu ſchnell! Die Welt moͤcht’s nicht tragen — drum will die Fuͤrſehung, daß man mit ſehenden Augen nicht ſehe. Beynahe mit einer Thraͤn’ im Auge ſag ich’s! — warum ich wei- nen moͤchte — Mitahnder der Menſchenwuͤrde! du weißt’s! — Und ihr ſchwaͤchere dennoch lie- be — hier nicht fuͤhlende Leſer — verzeiht mir!
Hier einige Tafeln mit Mundſtuͤcken. —
Zweytes
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V. Abſchnitt. I. Fragment. Ueber den menſchlichen Mund.
Warum wir das nicht ſehen, was an uns iſt? und nicht genießen uns ſelbſt? nicht ruͤck-
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gefuͤhl — „Auch mir iſt ein Mund gegeben?“
O Menſchheit! wie biſt du geſimken!
O ewiges Leben — — wie mir ſeyn wird, wenn ich im Angeſichte Chriſtus den Mund der
Gottheit mit meinen Augen ſehen und aufjauchzend fuͤhlen werde — „Auch ich hab’ einen Mund,
„Ebenbild deſſen, den ich anbete, empfangen! — den kann ich nennen — der mir ihn gab — O
„ewiges Leben im bloßen Gedanken!“ —
Mahler und Bildner! — wie ſoll ich Euch erflehen, dieß heilige Organon — zu ſtu-
dieren in allen ſeinen feinen Zuͤgen, aller ſeiner Harmonie und Proportion?
Uebergießt manchen charakteriſtiſchen Mund lebender und todter Menſchen mit dem feinſten
Gips, und formirt darnach, und zeichnet darnach, und lernt daran beobachten — Studiert erſt
Tage lang Einen; und ihr habt, ſo mannichfaltig ſie ſeyn moͤgen, unzaͤhlige ſtudiert! — Aber
verzeiht mir; mein Herz iſt gepreßt; warum? Jn drey Jahren unter 10. bis 20. Arbeitern, de-
nen ich vorpredigte, vorwies, vorzeichnete — hab’ ich den noch nicht gefunden, der, nicht etwa
das Fuͤhlbare gefuͤhlt, nur das Anſchaubare geſehen, ergriffen und dargeſtellt haͤtte — was ſoll
ich hoffen?
Alles, was ich erwarten kann, erwart’ ich von den ſo leicht moͤglichen charakteriſtiſchen
Gipsabguͤſſen — Nur einmal ein Cabinet ſolcher geſammelt — Aber! die Wuͤrkungen allzuge-
nauer, ſicherer Beobachtungen waͤren vielleicht zuweitgreifend! Die Maſchine der Menſchheit
ſchwuͤnge ſich zu ſchnell! Die Welt moͤcht’s nicht tragen — drum will die Fuͤrſehung, daß man
mit ſehenden Augen nicht ſehe. Beynahe mit einer Thraͤn’ im Auge ſag ich’s! — warum ich wei-
nen moͤchte — Mitahnder der Menſchenwuͤrde! du weißt’s! — Und ihr ſchwaͤchere dennoch lie-
be — hier nicht fuͤhlende Leſer — verzeiht mir!
Hier einige Tafeln mit Mundſtuͤcken. —
Zweytes
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/186>, abgerufen am 16.02.2025.
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