Erstes Fragment. Ueber den menschlichen Mund. Ein Wort aus der Fülle des Herzens.
Alles liegt in dem menschlichen Munde, was im menschlichen Geiste liegt, wie alles, was in Gott ist -- sichtbar wird in Jesus Christus!
Der Mund in seiner Ruhe, und der Mund in seinen unendlichen Bewegungen -- welch eine Welt voll Charakter! wer will aussprechen, was er ausspricht -- selber, wenn er schweigt! --
So heilig ist mir dieß Glied, daß ich kaum davon reden kann -- Jch erstaun' über mir selber, werde mir Wunder aller Wunder, daß ich nicht nur ein thierisches Maul zum Essen und Athmen -- daß ich einen menschlichen Mund zum Sprechen habe -- und einen Mund, der immer spricht, wenn er auch immer schweigt.
Erwartet nichts, Leser, über dieß beseelteste und bedeutsamste aller unserer Organen -- Jch bin nicht fähig und nicht würdig, davon zu sprechen.
Ein Mensch, der die Würde dieses -- Gliedes? -- wie ganz anders ist's, als alles an- dere, was man Glied nennt? wie nicht abzulösen? wie nicht zu bestimmen? wie viel einfacher und zusammengesetzter? -- Ein Mensch, der die Würde dieses Gliedes kennte, fühlte -- innigst fühlte -- Er spräche Gottesworte, und seine Worte wären Gottesthaten ... O daß ich nur zit- tern kann, statt zu sprechen -- von der Herrlichkeit des Mundes -- dieses Hauptsitzes der Weis- heit und Thorheit, der Kraft und Schwachheit, der Tugendhaftigkeit und Lasterhaftigkeit, der Feinheit und Grobheit des menschlichen Geistes! diesem Sitze aller Liebe und alles Hasses, aller Aufrichtigkeit und Falschheit -- aller Demuth und alles Stolzes! aller Verstellung und Wahrheit!
O zu welchen Anbetungen würd' er sich öffnen oder schließen mein Mund -- wenn ich -- mehr Mensch -- wäre!
O die verstimmte, verunmenschlichte Menschheit! O trauriges Geheimniß meiner mich miß- bildenden Jugendjahre! Wille des Allwaltenden, wann wirst du dich aufhellen? .. Jch bete an, weil ich fühle, daß ich -- nicht anzubeten würdig bin! Doch werd' ichs werden -- wie's Menschen werden können, denn der mich schuf -- Einen Mund gab er mir. --
Warum
Phys. Fragm.IIIVersuch. Q
Erſtes Fragment. Ueber den menſchlichen Mund. Ein Wort aus der Fuͤlle des Herzens.
Alles liegt in dem menſchlichen Munde, was im menſchlichen Geiſte liegt, wie alles, was in Gott iſt — ſichtbar wird in Jeſus Chriſtus!
Der Mund in ſeiner Ruhe, und der Mund in ſeinen unendlichen Bewegungen — welch eine Welt voll Charakter! wer will ausſprechen, was er ausſpricht — ſelber, wenn er ſchweigt! —
So heilig iſt mir dieß Glied, daß ich kaum davon reden kann — Jch erſtaun’ uͤber mir ſelber, werde mir Wunder aller Wunder, daß ich nicht nur ein thieriſches Maul zum Eſſen und Athmen — daß ich einen menſchlichen Mund zum Sprechen habe — und einen Mund, der immer ſpricht, wenn er auch immer ſchweigt.
Erwartet nichts, Leſer, uͤber dieß beſeelteſte und bedeutſamſte aller unſerer Organen — Jch bin nicht faͤhig und nicht wuͤrdig, davon zu ſprechen.
Ein Menſch, der die Wuͤrde dieſes — Gliedes? — wie ganz anders iſt’s, als alles an- dere, was man Glied nennt? wie nicht abzuloͤſen? wie nicht zu beſtimmen? wie viel einfacher und zuſammengeſetzter? — Ein Menſch, der die Wuͤrde dieſes Gliedes kennte, fuͤhlte — innigſt fuͤhlte — Er ſpraͤche Gottesworte, und ſeine Worte waͤren Gottesthaten ... O daß ich nur zit- tern kann, ſtatt zu ſprechen — von der Herrlichkeit des Mundes — dieſes Hauptſitzes der Weis- heit und Thorheit, der Kraft und Schwachheit, der Tugendhaftigkeit und Laſterhaftigkeit, der Feinheit und Grobheit des menſchlichen Geiſtes! dieſem Sitze aller Liebe und alles Haſſes, aller Aufrichtigkeit und Falſchheit — aller Demuth und alles Stolzes! aller Verſtellung und Wahrheit!
O zu welchen Anbetungen wuͤrd’ er ſich oͤffnen oder ſchließen mein Mund — wenn ich — mehr Menſch — waͤre!
O die verſtimmte, verunmenſchlichte Menſchheit! O trauriges Geheimniß meiner mich miß- bildenden Jugendjahre! Wille des Allwaltenden, wann wirſt du dich aufhellen? .. Jch bete an, weil ich fuͤhle, daß ich — nicht anzubeten wuͤrdig bin! Doch werd’ ichs werden — wie’s Menſchen werden koͤnnen, denn der mich ſchuf — Einen Mund gab er mir. —
Warum
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Erſtes Fragment.
Ueber den menſchlichen Mund. Ein Wort aus der Fuͤlle
des Herzens.
Alles liegt in dem menſchlichen Munde, was im menſchlichen Geiſte liegt, wie alles, was in
Gott iſt — ſichtbar wird in Jeſus Chriſtus!
Der Mund in ſeiner Ruhe, und der Mund in ſeinen unendlichen Bewegungen — welch
eine Welt voll Charakter! wer will ausſprechen, was er ausſpricht — ſelber, wenn er ſchweigt! —
So heilig iſt mir dieß Glied, daß ich kaum davon reden kann — Jch erſtaun’ uͤber mir
ſelber, werde mir Wunder aller Wunder, daß ich nicht nur ein thieriſches Maul zum Eſſen und
Athmen — daß ich einen menſchlichen Mund zum Sprechen habe — und einen Mund, der immer
ſpricht, wenn er auch immer ſchweigt.
Erwartet nichts, Leſer, uͤber dieß beſeelteſte und bedeutſamſte aller unſerer Organen —
Jch bin nicht faͤhig und nicht wuͤrdig, davon zu ſprechen.
Ein Menſch, der die Wuͤrde dieſes — Gliedes? — wie ganz anders iſt’s, als alles an-
dere, was man Glied nennt? wie nicht abzuloͤſen? wie nicht zu beſtimmen? wie viel einfacher
und zuſammengeſetzter? — Ein Menſch, der die Wuͤrde dieſes Gliedes kennte, fuͤhlte — innigſt
fuͤhlte — Er ſpraͤche Gottesworte, und ſeine Worte waͤren Gottesthaten ... O daß ich nur zit-
tern kann, ſtatt zu ſprechen — von der Herrlichkeit des Mundes — dieſes Hauptſitzes der Weis-
heit und Thorheit, der Kraft und Schwachheit, der Tugendhaftigkeit und Laſterhaftigkeit, der
Feinheit und Grobheit des menſchlichen Geiſtes! dieſem Sitze aller Liebe und alles Haſſes, aller
Aufrichtigkeit und Falſchheit — aller Demuth und alles Stolzes! aller Verſtellung und Wahrheit!
O zu welchen Anbetungen wuͤrd’ er ſich oͤffnen oder ſchließen mein Mund — wenn ich —
mehr Menſch — waͤre!
O die verſtimmte, verunmenſchlichte Menſchheit! O trauriges Geheimniß meiner mich miß-
bildenden Jugendjahre! Wille des Allwaltenden, wann wirſt du dich aufhellen? .. Jch bete an,
weil ich fuͤhle, daß ich — nicht anzubeten wuͤrdig bin! Doch werd’ ichs werden — wie’s Menſchen
werden koͤnnen, denn der mich ſchuf — Einen Mund gab er mir. —
Warum
Phyſ. Fragm. III Verſuch. Q
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/185>, abgerufen am 03.03.2025.
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