Nicht zu irgend einem andern Körper, als gerade zu dem, dem sie zugehört -- kann irgend eine Hand passen.
Der Versuch kann alle Augenblicke gemacht werden -- Man halte tausend Hände gegen Eine -- unter allen tausenden nicht Eine wird an die Stelle derselben zu setzen seyn.
Aber Mahler und Bildhauer setzen doch aus allen ihnen vorkommenden und vorschwe- benden Schönheiten -- Eine homogene Gestalt zusammen -- Also? --
Beweist ihr das Gegentheil von dem, was ihr beweisen wollt. Einmal -- wäre viel von dieser Homogenität zu reden! wer soll davon urtheilen? Jch meyne der Physiognomist -- oder Niemand -- der Physiognomist, der die Harmonie der verschiedenen Theile des Körpers oft innig gefühlt -- zergliedert und wieder zusammen gefühlt hat -- und der Physiognomist? -- der ver- mißt eben unaussprechlich oft diese Homogenität; der bemerkt eben beynahe in allen Werken der Kunst diese Zusammenflickung des Heterogenen. "Aber! wo nun dieß Homogene in die Augen "fällt?" -- da ist keine Zusammenflickung -- da hat der Künstler sein Original -- glücklich idealisirt? -- Nein -- ganz erträglich copiert -- Ein Original -- oder -- das Zusammengele- sene war analog -- und ließ sich -- zwar auch nicht zusammenflicken -- sondern zusammenmas- sen -- ansetzen und verstreichen -- so daß es für homogen passiren konnte.
Gewiß bleibt's immer -- und nicht nur gewiß, sondern auch klar -- daß keine Hand, kein Finger der Natur an irgend einen andern Stumpf von Hand oder Arm -- als gleichfortlaufend so, daß es nicht Flickwerk sey, angepaßt werden kann -- Ob die Kunst, (die doch nichts, gar nichts als Nachahmerinn der Natur ist, seyn soll und seyn kann) gescheuter sey als die Natur -- laß ich dahin gestellt seyn? Die Kunst, deren Wesen Beschneidung, Stümmelung, Flick- werk ist; übertüncht freylich, und wenn sie's aufs Höchste getrieben, hat sie unmerkbar über- tüncht -- Die Natur würkt von innen heraus; die Kunst von außen herein. Die Natur würkt auf alle Punkte -- die Kunst auf Einen. Die Natur umfaßt das Ganze zugleich: Die Kunst immer nur Oberfläche; nur Einen Theil der Oberfläche. Wenn also Etwas am Menschen cha- rakteristisch ist -- oder welches gleich viel ist, wenn sich nicht alle Menschen in Bildung und Cha- rakter vollkommen ähnlich sind -- so ist auch die Hand besonderer Charakter des besondern Men- schen, dem sie angehört. Sie ist also so gut, als irgend etwas, ein Gegenstand der Physiogno-
mik
IV. Abſchnitt. I. Fragment.
Nicht zu irgend einem andern Koͤrper, als gerade zu dem, dem ſie zugehoͤrt — kann irgend eine Hand paſſen.
Der Verſuch kann alle Augenblicke gemacht werden — Man halte tauſend Haͤnde gegen Eine — unter allen tauſenden nicht Eine wird an die Stelle derſelben zu ſetzen ſeyn.
Aber Mahler und Bildhauer ſetzen doch aus allen ihnen vorkommenden und vorſchwe- benden Schoͤnheiten — Eine homogene Geſtalt zuſammen — Alſo? —
Beweiſt ihr das Gegentheil von dem, was ihr beweiſen wollt. Einmal — waͤre viel von dieſer Homogenitaͤt zu reden! wer ſoll davon urtheilen? Jch meyne der Phyſiognomiſt — oder Niemand — der Phyſiognomiſt, der die Harmonie der verſchiedenen Theile des Koͤrpers oft innig gefuͤhlt — zergliedert und wieder zuſammen gefuͤhlt hat — und der Phyſiognomiſt? — der ver- mißt eben unausſprechlich oft dieſe Homogenitaͤt; der bemerkt eben beynahe in allen Werken der Kunſt dieſe Zuſammenflickung des Heterogenen. „Aber! wo nun dieß Homogene in die Augen „faͤllt?“ — da iſt keine Zuſammenflickung — da hat der Kuͤnſtler ſein Original — gluͤcklich idealiſirt? — Nein — ganz ertraͤglich copiert — Ein Original — oder — das Zuſammengele- ſene war analog — und ließ ſich — zwar auch nicht zuſammenflicken — ſondern zuſammenmaſ- ſen — anſetzen und verſtreichen — ſo daß es fuͤr homogen paſſiren konnte.
Gewiß bleibt’s immer — und nicht nur gewiß, ſondern auch klar — daß keine Hand, kein Finger der Natur an irgend einen andern Stumpf von Hand oder Arm — als gleichfortlaufend ſo, daß es nicht Flickwerk ſey, angepaßt werden kann — Ob die Kunſt, (die doch nichts, gar nichts als Nachahmerinn der Natur iſt, ſeyn ſoll und ſeyn kann) geſcheuter ſey als die Natur — laß ich dahin geſtellt ſeyn? Die Kunſt, deren Weſen Beſchneidung, Stuͤmmelung, Flick- werk iſt; uͤbertuͤncht freylich, und wenn ſie’s aufs Hoͤchſte getrieben, hat ſie unmerkbar uͤber- tuͤncht — Die Natur wuͤrkt von innen heraus; die Kunſt von außen herein. Die Natur wuͤrkt auf alle Punkte — die Kunſt auf Einen. Die Natur umfaßt das Ganze zugleich: Die Kunſt immer nur Oberflaͤche; nur Einen Theil der Oberflaͤche. Wenn alſo Etwas am Menſchen cha- rakteriſtiſch iſt — oder welches gleich viel iſt, wenn ſich nicht alle Menſchen in Bildung und Cha- rakter vollkommen aͤhnlich ſind — ſo iſt auch die Hand beſonderer Charakter des beſondern Men- ſchen, dem ſie angehoͤrt. Sie iſt alſo ſo gut, als irgend etwas, ein Gegenſtand der Phyſiogno-
mik
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0154"n="104"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">IV.</hi> Abſchnitt. <hirendition="#aq">I.</hi> Fragment.</hi></fw><lb/><p><hirendition="#fr">Nicht zu irgend einem andern Koͤrper, als gerade zu dem, dem ſie zugehoͤrt —<lb/>
kann irgend eine Hand paſſen.</hi></p><lb/><p>Der Verſuch kann alle Augenblicke gemacht werden — Man halte tauſend Haͤnde gegen<lb/>
Eine — unter allen tauſenden nicht Eine wird an die Stelle derſelben zu ſetzen ſeyn.</p><lb/><p>Aber <hirendition="#fr">Mahler</hi> und <hirendition="#fr">Bildhauer</hi>ſetzen doch aus allen ihnen vorkommenden und vorſchwe-<lb/>
benden Schoͤnheiten — Eine <hirendition="#fr">homogene</hi> Geſtalt zuſammen — Alſo? —</p><lb/><p>Beweiſt ihr das Gegentheil von dem, was ihr beweiſen wollt. Einmal — waͤre viel von<lb/>
dieſer <hirendition="#fr">Homogenitaͤt</hi> zu reden! wer ſoll davon urtheilen? Jch meyne der <hirendition="#fr">Phyſiognomiſt</hi>— oder<lb/>
Niemand — der Phyſiognomiſt, der die Harmonie der verſchiedenen Theile des Koͤrpers oft innig<lb/>
gefuͤhlt — zergliedert und wieder zuſammen gefuͤhlt hat — und der Phyſiognomiſt? — der ver-<lb/>
mißt eben unausſprechlich oft dieſe <hirendition="#fr">Homogenitaͤt;</hi> der bemerkt eben beynahe in allen Werken der<lb/>
Kunſt dieſe Zuſammenflickung des Heterogenen. „Aber! wo nun dieß Homogene in die Augen<lb/>„faͤllt?“— da iſt keine <hirendition="#fr">Zuſammenflickung</hi>— da hat der Kuͤnſtler ſein Original — gluͤcklich<lb/><hirendition="#fr">idealiſirt?</hi>— Nein — ganz ertraͤglich <hirendition="#fr">copiert</hi>— Ein Original — oder — das Zuſammengele-<lb/>ſene war analog — und ließ ſich — zwar auch nicht zuſammenflicken —ſondern <hirendition="#fr">zuſammenmaſ-<lb/>ſen</hi>— anſetzen und verſtreichen —ſo daß es fuͤr homogen paſſiren konnte.</p><lb/><p><hirendition="#fr">Gewiß</hi> bleibt’s immer — und nicht nur gewiß, ſondern auch <hirendition="#fr">klar</hi>— daß keine Hand, kein<lb/>
Finger der <hirendition="#fr">Natur</hi> an irgend einen andern Stumpf von Hand oder Arm — als gleichfortlaufend<lb/>ſo, daß es nicht Flickwerk ſey, angepaßt werden kann — Ob die <hirendition="#fr">Kunſt,</hi> (die doch nichts, gar<lb/>
nichts als Nachahmerinn der Natur iſt, ſeyn ſoll und ſeyn kann) geſcheuter ſey als die Natur —<lb/>
laß ich dahin geſtellt ſeyn? Die Kunſt, deren <hirendition="#fr">Weſen Beſchneidung, Stuͤmmelung, Flick-<lb/>
werk</hi> iſt; <hirendition="#fr">uͤbertuͤncht</hi> freylich, und wenn ſie’s aufs Hoͤchſte getrieben, hat ſie <hirendition="#fr">unmerkbar</hi> uͤber-<lb/>
tuͤncht — Die <hirendition="#fr">Natur</hi> wuͤrkt von <hirendition="#fr">innen heraus;</hi> die <hirendition="#fr">Kunſt</hi> von <hirendition="#fr">außen herein.</hi> Die <hirendition="#fr">Natur</hi> wuͤrkt<lb/>
auf <hirendition="#fr">alle</hi> Punkte — die <hirendition="#fr">Kunſt</hi> auf <hirendition="#fr">Einen.</hi> Die <hirendition="#fr">Natur</hi> umfaßt das <hirendition="#fr">Ganze</hi> zugleich: Die <hirendition="#fr">Kunſt</hi><lb/>
immer nur <hirendition="#fr">Oberflaͤche;</hi> nur Einen <hirendition="#fr">Theil</hi> der Oberflaͤche. Wenn alſo <hirendition="#fr">Etwas</hi> am Menſchen cha-<lb/>
rakteriſtiſch iſt — oder welches gleich viel iſt, wenn ſich nicht alle Menſchen in <hirendition="#fr">Bildung</hi> und <hirendition="#fr">Cha-<lb/>
rakter</hi> vollkommen aͤhnlich ſind —ſo iſt auch die <hirendition="#fr">Hand</hi> beſonderer Charakter des beſondern Men-<lb/>ſchen, dem ſie angehoͤrt. Sie iſt alſo ſo gut, als irgend etwas, ein Gegenſtand der Phyſiogno-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">mik</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[104/0154]
IV. Abſchnitt. I. Fragment.
Nicht zu irgend einem andern Koͤrper, als gerade zu dem, dem ſie zugehoͤrt —
kann irgend eine Hand paſſen.
Der Verſuch kann alle Augenblicke gemacht werden — Man halte tauſend Haͤnde gegen
Eine — unter allen tauſenden nicht Eine wird an die Stelle derſelben zu ſetzen ſeyn.
Aber Mahler und Bildhauer ſetzen doch aus allen ihnen vorkommenden und vorſchwe-
benden Schoͤnheiten — Eine homogene Geſtalt zuſammen — Alſo? —
Beweiſt ihr das Gegentheil von dem, was ihr beweiſen wollt. Einmal — waͤre viel von
dieſer Homogenitaͤt zu reden! wer ſoll davon urtheilen? Jch meyne der Phyſiognomiſt — oder
Niemand — der Phyſiognomiſt, der die Harmonie der verſchiedenen Theile des Koͤrpers oft innig
gefuͤhlt — zergliedert und wieder zuſammen gefuͤhlt hat — und der Phyſiognomiſt? — der ver-
mißt eben unausſprechlich oft dieſe Homogenitaͤt; der bemerkt eben beynahe in allen Werken der
Kunſt dieſe Zuſammenflickung des Heterogenen. „Aber! wo nun dieß Homogene in die Augen
„faͤllt?“ — da iſt keine Zuſammenflickung — da hat der Kuͤnſtler ſein Original — gluͤcklich
idealiſirt? — Nein — ganz ertraͤglich copiert — Ein Original — oder — das Zuſammengele-
ſene war analog — und ließ ſich — zwar auch nicht zuſammenflicken — ſondern zuſammenmaſ-
ſen — anſetzen und verſtreichen — ſo daß es fuͤr homogen paſſiren konnte.
Gewiß bleibt’s immer — und nicht nur gewiß, ſondern auch klar — daß keine Hand, kein
Finger der Natur an irgend einen andern Stumpf von Hand oder Arm — als gleichfortlaufend
ſo, daß es nicht Flickwerk ſey, angepaßt werden kann — Ob die Kunſt, (die doch nichts, gar
nichts als Nachahmerinn der Natur iſt, ſeyn ſoll und ſeyn kann) geſcheuter ſey als die Natur —
laß ich dahin geſtellt ſeyn? Die Kunſt, deren Weſen Beſchneidung, Stuͤmmelung, Flick-
werk iſt; uͤbertuͤncht freylich, und wenn ſie’s aufs Hoͤchſte getrieben, hat ſie unmerkbar uͤber-
tuͤncht — Die Natur wuͤrkt von innen heraus; die Kunſt von außen herein. Die Natur wuͤrkt
auf alle Punkte — die Kunſt auf Einen. Die Natur umfaßt das Ganze zugleich: Die Kunſt
immer nur Oberflaͤche; nur Einen Theil der Oberflaͤche. Wenn alſo Etwas am Menſchen cha-
rakteriſtiſch iſt — oder welches gleich viel iſt, wenn ſich nicht alle Menſchen in Bildung und Cha-
rakter vollkommen aͤhnlich ſind — ſo iſt auch die Hand beſonderer Charakter des beſondern Men-
ſchen, dem ſie angehoͤrt. Sie iſt alſo ſo gut, als irgend etwas, ein Gegenſtand der Phyſiogno-
mik
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/154>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.