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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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III. Abschnitt. II. Fragment.
"ihren Nüancen gepaart, merkwürdige Buchten, Linien und Verhältnisse durch Zeichnungen deut-
"lich gemacht, jedem Bruchstücke seine Erklärung beygefügt, so wäre das Mandarinen Alphabet
"des menschlichen Geschlechtes fertig, und wir dürften nur nachschlagen, um jedes Gesicht aus un-
"serm Vorrathe zu erklären .. Wenn ich mich dem Gedanken ganz überlasse, daß die Ausführung
"dieses Elementarwerks nicht schlechterdings unmöglich sey, so erwarte ich noch mehr, als Lava-
"ter;
ich denke mir dann eine so reiche, so bestimmte, so ausgebildete Sprache, daß nach einer
"wörtlichen Beschreibung eine Gestalt wieder hergestellt werden kann; daß eine richtige Schilde-
"rung der Seele auf den Umriß des Körpers hinweiset; daß ein Physiognomiker aus einem künf-
"tigen Plutarch große Männer zu palingenesiren vermag; daß es ihm leicht wird, ein Jdeal für
"jede Bestimmung des Menschen zu entwerfen." (Vortrefflich -- und -- der Verfasser mag scherzen
oder ernsten -- was ich alles ohne Träumerey ganz zuverläßig schon von dem folgenden Jahrhun-
derte miterwarte, wovon denn, so Gott will, in den physiognomischen Linien bereits einige vor-
läufige Versuche gewagt werden sollen.) --

"Mit solchen Jdealen behängen wir alsdann die Gemächer unserer Fürsten, und wer ein
"unschickliches Amt fordert, muß sich ohne Murren beruhigen, wenn ihn sichtbar seine Nase davon
"ausschließt." -- (Lacht und lächelt -- Wahrheitsfreunde und Feinde -- so wird's; so muß es
kommen!) "Nach und nach bilde ich mir eine ganz andere Welt, aus welcher Jrrthum und Betrug
"auf immer verbannt sind" -- -- (verbannt wären, wenn Physiognomik allgeglaubte Religion
wäre; alle Menschen geübte Beobachter; das Bedürfniß der Verstellung nicht neue Kunstgriffe
erfände, wodurch wenigstens eine Zeitlang die Physiognomik wieder irre gemacht werden könnte.)
"Ob wir darum glücklicher wären? -- läßt sich streiten" -- (Glücklicher gewiß! obgleich diese Ue-
bung des Streits der Aufrichtigkeit und Tugend mit Laster und Verstellung -- die weit eingrei-
fendste Entwickelung aller menschlichen Kräfte bewürkt -- und die menschliche Tugend gleichsam,
wenn ich so sagen darf, vergöttlicht, und zur Höhe des Himmels treibt.) "Wahrheit ist hier --
(fährt unser Verfasser fort) "wie immer, in der Mitte. Wir wollen nicht zu wenig von der Phy-
"siognomik erwarten; aber auch nicht zu viel. Denn noch strömen Einwendungen auf mich zu,
"die ich nicht alle beantworten kann."

Giebt's

III. Abſchnitt. II. Fragment.
„ihren Nuͤançen gepaart, merkwuͤrdige Buchten, Linien und Verhaͤltniſſe durch Zeichnungen deut-
„lich gemacht, jedem Bruchſtuͤcke ſeine Erklaͤrung beygefuͤgt, ſo waͤre das Mandarinen Alphabet
„des menſchlichen Geſchlechtes fertig, und wir duͤrften nur nachſchlagen, um jedes Geſicht aus un-
„ſerm Vorrathe zu erklaͤren .. Wenn ich mich dem Gedanken ganz uͤberlaſſe, daß die Ausfuͤhrung
„dieſes Elementarwerks nicht ſchlechterdings unmoͤglich ſey, ſo erwarte ich noch mehr, als Lava-
„ter;
ich denke mir dann eine ſo reiche, ſo beſtimmte, ſo ausgebildete Sprache, daß nach einer
„woͤrtlichen Beſchreibung eine Geſtalt wieder hergeſtellt werden kann; daß eine richtige Schilde-
„rung der Seele auf den Umriß des Koͤrpers hinweiſet; daß ein Phyſiognomiker aus einem kuͤnf-
„tigen Plutarch große Maͤnner zu palingeneſiren vermag; daß es ihm leicht wird, ein Jdeal fuͤr
„jede Beſtimmung des Menſchen zu entwerfen.“ (Vortrefflich — und — der Verfaſſer mag ſcherzen
oder ernſten — was ich alles ohne Traͤumerey ganz zuverlaͤßig ſchon von dem folgenden Jahrhun-
derte miterwarte, wovon denn, ſo Gott will, in den phyſiognomiſchen Linien bereits einige vor-
laͤufige Verſuche gewagt werden ſollen.) —

„Mit ſolchen Jdealen behaͤngen wir alsdann die Gemaͤcher unſerer Fuͤrſten, und wer ein
„unſchickliches Amt fordert, muß ſich ohne Murren beruhigen, wenn ihn ſichtbar ſeine Naſe davon
„ausſchließt.“ — (Lacht und laͤchelt — Wahrheitsfreunde und Feinde — ſo wird’s; ſo muß es
kommen!) „Nach und nach bilde ich mir eine ganz andere Welt, aus welcher Jrrthum und Betrug
„auf immer verbannt ſind“ — — (verbannt waͤren, wenn Phyſiognomik allgeglaubte Religion
waͤre; alle Menſchen geuͤbte Beobachter; das Beduͤrfniß der Verſtellung nicht neue Kunſtgriffe
erfaͤnde, wodurch wenigſtens eine Zeitlang die Phyſiognomik wieder irre gemacht werden koͤnnte.)
„Ob wir darum gluͤcklicher waͤren? — laͤßt ſich ſtreiten“ — (Gluͤcklicher gewiß! obgleich dieſe Ue-
bung des Streits der Aufrichtigkeit und Tugend mit Laſter und Verſtellung — die weit eingrei-
fendſte Entwickelung aller menſchlichen Kraͤfte bewuͤrkt — und die menſchliche Tugend gleichſam,
wenn ich ſo ſagen darf, vergoͤttlicht, und zur Hoͤhe des Himmels treibt.) „Wahrheit iſt hier —
(faͤhrt unſer Verfaſſer fort) „wie immer, in der Mitte. Wir wollen nicht zu wenig von der Phy-
„ſiognomik erwarten; aber auch nicht zu viel. Denn noch ſtroͤmen Einwendungen auf mich zu,
„die ich nicht alle beantworten kann.“

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[92/0142] III. Abſchnitt. II. Fragment. „ihren Nuͤançen gepaart, merkwuͤrdige Buchten, Linien und Verhaͤltniſſe durch Zeichnungen deut- „lich gemacht, jedem Bruchſtuͤcke ſeine Erklaͤrung beygefuͤgt, ſo waͤre das Mandarinen Alphabet „des menſchlichen Geſchlechtes fertig, und wir duͤrften nur nachſchlagen, um jedes Geſicht aus un- „ſerm Vorrathe zu erklaͤren .. Wenn ich mich dem Gedanken ganz uͤberlaſſe, daß die Ausfuͤhrung „dieſes Elementarwerks nicht ſchlechterdings unmoͤglich ſey, ſo erwarte ich noch mehr, als Lava- „ter; ich denke mir dann eine ſo reiche, ſo beſtimmte, ſo ausgebildete Sprache, daß nach einer „woͤrtlichen Beſchreibung eine Geſtalt wieder hergeſtellt werden kann; daß eine richtige Schilde- „rung der Seele auf den Umriß des Koͤrpers hinweiſet; daß ein Phyſiognomiker aus einem kuͤnf- „tigen Plutarch große Maͤnner zu palingeneſiren vermag; daß es ihm leicht wird, ein Jdeal fuͤr „jede Beſtimmung des Menſchen zu entwerfen.“ (Vortrefflich — und — der Verfaſſer mag ſcherzen oder ernſten — was ich alles ohne Traͤumerey ganz zuverlaͤßig ſchon von dem folgenden Jahrhun- derte miterwarte, wovon denn, ſo Gott will, in den phyſiognomiſchen Linien bereits einige vor- laͤufige Verſuche gewagt werden ſollen.) — „Mit ſolchen Jdealen behaͤngen wir alsdann die Gemaͤcher unſerer Fuͤrſten, und wer ein „unſchickliches Amt fordert, muß ſich ohne Murren beruhigen, wenn ihn ſichtbar ſeine Naſe davon „ausſchließt.“ — (Lacht und laͤchelt — Wahrheitsfreunde und Feinde — ſo wird’s; ſo muß es kommen!) „Nach und nach bilde ich mir eine ganz andere Welt, aus welcher Jrrthum und Betrug „auf immer verbannt ſind“ — — (verbannt waͤren, wenn Phyſiognomik allgeglaubte Religion waͤre; alle Menſchen geuͤbte Beobachter; das Beduͤrfniß der Verſtellung nicht neue Kunſtgriffe erfaͤnde, wodurch wenigſtens eine Zeitlang die Phyſiognomik wieder irre gemacht werden koͤnnte.) „Ob wir darum gluͤcklicher waͤren? — laͤßt ſich ſtreiten“ — (Gluͤcklicher gewiß! obgleich dieſe Ue- bung des Streits der Aufrichtigkeit und Tugend mit Laſter und Verſtellung — die weit eingrei- fendſte Entwickelung aller menſchlichen Kraͤfte bewuͤrkt — und die menſchliche Tugend gleichſam, wenn ich ſo ſagen darf, vergoͤttlicht, und zur Hoͤhe des Himmels treibt.) „Wahrheit iſt hier — (faͤhrt unſer Verfaſſer fort) „wie immer, in der Mitte. Wir wollen nicht zu wenig von der Phy- „ſiognomik erwarten; aber auch nicht zu viel. Denn noch ſtroͤmen Einwendungen auf mich zu, „die ich nicht alle beantworten kann.“ Giebt’s

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/142>, abgerufen am 22.11.2024.