Erstes Fragment. Gedanken eines Unbekannten über Thier- und Menschenphysiognomien.
"Jedes Thier hat eine Haupteigenschaft, wodurch es sich von andern unterscheidet -- Eben so, "wie der Bau eines Thiergeschlechtes von andern ganz verschieden, so ist auch der Hauptcharakter "eines Thiergeschlechtes unterschieden von andern. Dieser Hauptcharakter bezeichnet sich durch eine "besondere Form, durch die sichtbare Gestalt des Leibes. Jedes Thiergeschlecht hat so gewiß nur "einen einzigen Charakter, so gewiß es nur eine einzige Form hat." "Könnt' es nun, der Analogie nach, nicht seyn, daß jede Haupteigenschaft der Seele sich "eben so gewiß durch eine besondere Hauptform des Körpers ausdrückte -- so gewiß sich jede "Haupteigenschaft der Thiere durch eine besondere Form im Ganzen ausdrückt?" "Dieser Hauptcharakter eines Thiergeschlechtes bleibt, wie ihn die Natur gab -- Er wird "nicht durch Nebeneigenschaften verdunkelt; nicht durch Kunst bemäntelt -- So wenig sich die "Form ändern läßt, so wenig der Charakter nach seinem Wesentlichen." "Dürfte man also nicht mit der größesten Gewißheit sagen: diese Form drückt nur diesen "Hauptcharakter aus? " -- Nun ist die Frage: "Ob sich davon Anwendungen auf den Menschen "machen lassen? ob die Form, die die Haupteigenschaft eines Thieres andeutet, auch bey dem Men- "schen die nämliche Eigenschaft andeute? -- Versteht sich freylich, daß sie beym Menschen immer "feiner, vielleicht versteckter, verwickelter wäre." -- "Jst diese Frage einmal bestimmt -- und so bestimmt, daß sich so fort Anwendung davon "machen läßt, wie viel, wie viel ist gewonnen?" "Aber ja -- das ist auffallend: Beym Menschen ist die Seele nichtnur Eine Eigen- "schaft -- Sie ist eine Welt von verflochtenen Eigenschaften, die alle durch einander würken. Eine "verdunkelt die andere." "Wenn nun jede Eigenschaft durch ihre besondere Form angedeutet wird, so sind bey meh- "rern verschiedenen Eigenschaften auch mehr verschiedene Formen -- und diese Formen fließen alle "harmonisch zusammen, und sind also schwerer zu entziefern."
Es
Erſtes Fragment. Gedanken eines Unbekannten uͤber Thier- und Menſchenphyſiognomien.
„Jedes Thier hat eine Haupteigenſchaft, wodurch es ſich von andern unterſcheidet — Eben ſo, „wie der Bau eines Thiergeſchlechtes von andern ganz verſchieden, ſo iſt auch der Hauptcharakter „eines Thiergeſchlechtes unterſchieden von andern. Dieſer Hauptcharakter bezeichnet ſich durch eine „beſondere Form, durch die ſichtbare Geſtalt des Leibes. Jedes Thiergeſchlecht hat ſo gewiß nur „einen einzigen Charakter, ſo gewiß es nur eine einzige Form hat.“ „Koͤnnt’ es nun, der Analogie nach, nicht ſeyn, daß jede Haupteigenſchaft der Seele ſich „eben ſo gewiß durch eine beſondere Hauptform des Koͤrpers ausdruͤckte — ſo gewiß ſich jede „Haupteigenſchaft der Thiere durch eine beſondere Form im Ganzen ausdruͤckt?“ „Dieſer Hauptcharakter eines Thiergeſchlechtes bleibt, wie ihn die Natur gab — Er wird „nicht durch Nebeneigenſchaften verdunkelt; nicht durch Kunſt bemaͤntelt — So wenig ſich die „Form aͤndern laͤßt, ſo wenig der Charakter nach ſeinem Weſentlichen.“ „Duͤrfte man alſo nicht mit der groͤßeſten Gewißheit ſagen: dieſe Form druͤckt nur dieſen „Hauptcharakter aus? “ — Nun iſt die Frage: „Ob ſich davon Anwendungen auf den Menſchen „machen laſſen? ob die Form, die die Haupteigenſchaft eines Thieres andeutet, auch bey dem Men- „ſchen die naͤmliche Eigenſchaft andeute? — Verſteht ſich freylich, daß ſie beym Menſchen immer „feiner, vielleicht verſteckter, verwickelter waͤre.“ — „Jſt dieſe Frage einmal beſtimmt — und ſo beſtimmt, daß ſich ſo fort Anwendung davon „machen laͤßt, wie viel, wie viel iſt gewonnen?“ „Aber ja — das iſt auffallend: Beym Menſchen iſt die Seele nichtnur Eine Eigen- „ſchaft — Sie iſt eine Welt von verflochtenen Eigenſchaften, die alle durch einander wuͤrken. Eine „verdunkelt die andere.“ „Wenn nun jede Eigenſchaft durch ihre beſondere Form angedeutet wird, ſo ſind bey meh- „rern verſchiedenen Eigenſchaften auch mehr verſchiedene Formen — und dieſe Formen fließen alle „harmoniſch zuſammen, und ſind alſo ſchwerer zu entziefern.“
Es
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Erſtes Fragment.
Gedanken eines Unbekannten uͤber Thier- und Menſchenphyſiognomien.
„Jedes Thier hat eine Haupteigenſchaft, wodurch es ſich von andern unterſcheidet — Eben ſo,
„wie der Bau eines Thiergeſchlechtes von andern ganz verſchieden, ſo iſt auch der Hauptcharakter
„eines Thiergeſchlechtes unterſchieden von andern. Dieſer Hauptcharakter bezeichnet ſich durch eine
„beſondere Form, durch die ſichtbare Geſtalt des Leibes. Jedes Thiergeſchlecht hat ſo gewiß nur
„einen einzigen Charakter, ſo gewiß es nur eine einzige Form hat.“
„Koͤnnt’ es nun, der Analogie nach, nicht ſeyn, daß jede Haupteigenſchaft der Seele ſich
„eben ſo gewiß durch eine beſondere Hauptform des Koͤrpers ausdruͤckte — ſo gewiß ſich jede
„Haupteigenſchaft der Thiere durch eine beſondere Form im Ganzen ausdruͤckt?“
„Dieſer Hauptcharakter eines Thiergeſchlechtes bleibt, wie ihn die Natur gab — Er wird
„nicht durch Nebeneigenſchaften verdunkelt; nicht durch Kunſt bemaͤntelt — So wenig ſich die
„Form aͤndern laͤßt, ſo wenig der Charakter nach ſeinem Weſentlichen.“
„Duͤrfte man alſo nicht mit der groͤßeſten Gewißheit ſagen: dieſe Form druͤckt nur dieſen
„Hauptcharakter aus? “ — Nun iſt die Frage: „Ob ſich davon Anwendungen auf den Menſchen
„machen laſſen? ob die Form, die die Haupteigenſchaft eines Thieres andeutet, auch bey dem Men-
„ſchen die naͤmliche Eigenſchaft andeute? — Verſteht ſich freylich, daß ſie beym Menſchen immer
„feiner, vielleicht verſteckter, verwickelter waͤre.“ —
„Jſt dieſe Frage einmal beſtimmt — und ſo beſtimmt, daß ſich ſo fort Anwendung davon
„machen laͤßt, wie viel, wie viel iſt gewonnen?“
„Aber ja — das iſt auffallend: Beym Menſchen iſt die Seele nichtnur Eine Eigen-
„ſchaft — Sie iſt eine Welt von verflochtenen Eigenſchaften, die alle durch einander wuͤrken. Eine
„verdunkelt die andere.“
„Wenn nun jede Eigenſchaft durch ihre beſondere Form angedeutet wird, ſo ſind bey meh-
„rern verſchiedenen Eigenſchaften auch mehr verſchiedene Formen — und dieſe Formen fließen alle
„harmoniſch zuſammen, und ſind alſo ſchwerer zu entziefern.“
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/137>, abgerufen am 03.03.2025.
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