Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.VIII. Fragment. Sokrates stark hervorscheinen, wenn auch Uebung, Weisheit, Tugend und -- glückliche Umstände diesensogenannten schlimmen Anlagen die bestmöglichste Richtung gegeben hätten. Das Gröbere, das Festere der Bildung, welches überhaupt um so viel schneller in die Doch noch ein Wort, ehe wir weiter gehen, von den sogenannten guten und schlim- Schlimme Anlagen hat eigentlich kein Mensch; moralisch gute, genau zu reden, auch Aber, philosophisch zu reden, das heißt, deutlich und der Erfahrung gemäß, es ist anfangs Jst diese Reizbarkeit und Kraft so beschaffen, daß sie sehr oft, daß sie gemeiniglich moralisch Nun ist's, der allgemeinen Erfahrung nach, unwidersprechlich, daß, wo viele Kraft und deren
VIII. Fragment. Sokrates ſtark hervorſcheinen, wenn auch Uebung, Weisheit, Tugend und — gluͤckliche Umſtaͤnde dieſenſogenannten ſchlimmen Anlagen die beſtmoͤglichſte Richtung gegeben haͤtten. Das Groͤbere, das Feſtere der Bildung, welches uͤberhaupt um ſo viel ſchneller in die Doch noch ein Wort, ehe wir weiter gehen, von den ſogenannten guten und ſchlim- Schlimme Anlagen hat eigentlich kein Menſch; moraliſch gute, genau zu reden, auch Aber, philoſophiſch zu reden, das heißt, deutlich und der Erfahrung gemaͤß, es iſt anfangs Jſt dieſe Reizbarkeit und Kraft ſo beſchaffen, daß ſie ſehr oft, daß ſie gemeiniglich moraliſch Nun iſt’s, der allgemeinen Erfahrung nach, unwiderſprechlich, daß, wo viele Kraft und deren
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VIII. Fragment. Sokrates
ſtark hervorſcheinen, wenn auch Uebung, Weisheit, Tugend und — gluͤckliche Umſtaͤnde dieſen
ſogenannten ſchlimmen Anlagen die beſtmoͤglichſte Richtung gegeben haͤtten.
Das Groͤbere, das Feſtere der Bildung, welches uͤberhaupt um ſo viel ſchneller in die
Sinne faͤllt, ſich der Jmagination um ſo viel tiefer einpraͤgt, ſo viel leichter nachgeahmt wird —
dieß kann ſo wenig, ſo unmerkbar veraͤndert worden ſeyn; die Veraͤnderungen, welche Uebung und
Anſtrengung bewuͤrkt haben moͤgen — koͤnnen ſo fein, ſo leicht uͤberſehbar, von dem ſtaͤrkern Ein-
druck, den die Grundlage des Geſichts auf uns macht, ſo leicht verdraͤngt werden — daß daher
manche ſehr ſcheinbare, aber dennoch nur ſcheinbare, Einwendungen — gegen die Phyſiognomik
entſtehen koͤnnen.
Doch noch ein Wort, ehe wir weiter gehen, von den ſogenannten guten und ſchlim-
men Anlagen.
Schlimme Anlagen hat eigentlich kein Menſch; moraliſch gute, genau zu reden, auch
keiner. Keiner kommt laſterhaft, und keiner tugendhaft auf die Welt. Alle Menſchen ſind
anfangs Kinder, und alle neugeborne Kinder ſind, — nicht Boͤſewichter, und nicht Tugend-
helden — ſind unſchuldig. Wenige Menſchen werden ſehr tugendhaft; wenige werden ſehr la-
ſterhaft; alle aber ſuͤndigen, ſo wie alle ſterben. Suͤnde und Tod kann keiner auswei-
chen. Jn dieſem Sinne iſt die Erbſuͤnde der philoſophiſch wahreſte und erweislichſte Satz.
Aber, philoſophiſch zu reden, das heißt, deutlich und der Erfahrung gemaͤß, es iſt anfangs
im Menſchen nur phyſiſche Reizbarkeit und Kraft; nur Trieb zu wuͤrken, ſich auszubreiten, zu
leben, ſeine Exiſtenz zu erweitern, u. ſ. w.
Jſt dieſe Reizbarkeit und Kraft ſo beſchaffen, daß ſie ſehr oft, daß ſie gemeiniglich moraliſch
uͤbel, das iſt, zur Zerſtoͤrung mehrerer phyſiſcher Kraͤfte, oder zum Schaden der Geſellſchaft ange-
wandt wird; — ſo beſchaffen, daß ſie beynahe anders nicht, als ſchlimm angewandt werden kann,
ſo heißt ſie moraliſch ſchlimme Anlage. Und umgekehrt, moraliſch gute, wenn ſie zehnmal,
hundertmal gegen Eins, gut angewendet zu werden pflegt.
Nun iſt’s, der allgemeinen Erfahrung nach, unwiderſprechlich, daß, wo viele Kraft und
Reizbarkeit iſt, zugleich viele Leidenſchaften entſtehen muͤſſen, die groͤßtentheils zu moraliſch
ſchlimmen Geſinnungen und Thaten fuͤhren. „Der Mißbrauch der Gewalt (und jeder Kraft,
deren
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