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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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nach einem alten Marmor von Rubens.
um nicht zu sagen, lächerlichen Gedanken zu verfallen -- welchen Alcibiades, *) um seiner Aehn-
lichkeit mit einem Silen ein Compliment zu machen, anführt --

Fürs Erste könnt' ich sagen:

Die Mißgestalt Sokrates, deren beynahe alle gedenken, die etwas von ihm sagen, ist
so was Auffallendes, Frappantes, daß sie allen gleichsam als ein Widerspruch, als eine Anoma-
lie der Natur vorkam; daß sie als eine Ausnahme von der allgemeinen Regel angesehen wer-
den könnte, die gegen die Wahrheit der Physiognomie so wenig beweisen würde, als eine Mißge-
burt mit zwölf Fingern gegen die Wahrheit: "daß die Menschen fünf Finger an jeglicher Hand
"haben."

Wir könnten also für einmal seltene Ausnahmen zugeben; -- --

Mißgriffe der Natur; -- Druckfehler, wenn ich so sagen darf, die die allgemeine Les-
barkeit und Erklärbarkeit der menschlichen Gesichtszüge so wenig aufhüben, als zehen, zwanzig,
dreyßig Druckfehler ein Buch unlesbar und unerklärbar machen.

Wir haben oben schon ein Wort davon gesagt: -- Sollten nicht geheime Ursachen solcher
Mißgestalten, die jedoch die innere Kraft der Seele nicht zerstören, nur anders wenden, viel-
leicht gar schärfen, in den Zufällen während der Schwangerschaft der Mutter zu finden seyn?

Ferner bitt' ich zu beherzigen, was ich schon so oft gesagt, umsonst gesagt habe, und
nicht genug sagen kann: "daß Anlage und Anwendung von Entwickelung, Uebung, Bil-
dung,
oder wie wir's heißen wollen, wohl unterschieden werden muß."

Jch habe schon bezeugt, daß die meisten Einwendungen, die ich gegen die Physiogno-
mik gelesen oder gehört habe, sich durch diese simple Unterscheidung heben und beantworten lassen.

Ein Mensch mit den besten Anlagen kann schlimm; der mit den schlimmsten Anlagen gut
werden. Das was man schlimme Anlage nennt, kann dem Wesentlichen nach, zumal es in
den festern Theilen des Körpers seinen vornehmsten Sitz zu haben scheint -- beynahe gleich

stark
*) Socratem assero persimilem Silenis istis, qui
sedentes inter alias imagines, a sculptoribus figuran-
tur, ita ut fistulas tibiasve teneant, qui si bifariam
[Spaltenumbruch] dividantur, reperiuntur, intus habere imaginem
Deorum.
Platonis opera Marsil. Ficino interpr. p.
296.
Phys. Fragm. II Versuch. J

nach einem alten Marmor von Rubens.
um nicht zu ſagen, laͤcherlichen Gedanken zu verfallen — welchen Alcibiades, *) um ſeiner Aehn-
lichkeit mit einem Silen ein Compliment zu machen, anfuͤhrt —

Fuͤrs Erſte koͤnnt’ ich ſagen:

Die Mißgeſtalt Sokrates, deren beynahe alle gedenken, die etwas von ihm ſagen, iſt
ſo was Auffallendes, Frappantes, daß ſie allen gleichſam als ein Widerſpruch, als eine Anoma-
lie der Natur vorkam; daß ſie als eine Ausnahme von der allgemeinen Regel angeſehen wer-
den koͤnnte, die gegen die Wahrheit der Phyſiognomie ſo wenig beweiſen wuͤrde, als eine Mißge-
burt mit zwoͤlf Fingern gegen die Wahrheit: „daß die Menſchen fuͤnf Finger an jeglicher Hand
„haben.“

Wir koͤnnten alſo fuͤr einmal ſeltene Ausnahmen zugeben; — —

Mißgriffe der Natur; — Druckfehler, wenn ich ſo ſagen darf, die die allgemeine Les-
barkeit und Erklaͤrbarkeit der menſchlichen Geſichtszuͤge ſo wenig aufhuͤben, als zehen, zwanzig,
dreyßig Druckfehler ein Buch unlesbar und unerklaͤrbar machen.

Wir haben oben ſchon ein Wort davon geſagt: — Sollten nicht geheime Urſachen ſolcher
Mißgeſtalten, die jedoch die innere Kraft der Seele nicht zerſtoͤren, nur anders wenden, viel-
leicht gar ſchaͤrfen, in den Zufaͤllen waͤhrend der Schwangerſchaft der Mutter zu finden ſeyn?

Ferner bitt’ ich zu beherzigen, was ich ſchon ſo oft geſagt, umſonſt geſagt habe, und
nicht genug ſagen kann: „daß Anlage und Anwendung von Entwickelung, Uebung, Bil-
dung,
oder wie wir’s heißen wollen, wohl unterſchieden werden muß.“

Jch habe ſchon bezeugt, daß die meiſten Einwendungen, die ich gegen die Phyſiogno-
mik geleſen oder gehoͤrt habe, ſich durch dieſe ſimple Unterſcheidung heben und beantworten laſſen.

Ein Menſch mit den beſten Anlagen kann ſchlimm; der mit den ſchlimmſten Anlagen gut
werden. Das was man ſchlimme Anlage nennt, kann dem Weſentlichen nach, zumal es in
den feſtern Theilen des Koͤrpers ſeinen vornehmſten Sitz zu haben ſcheint — beynahe gleich

ſtark
*) Socratem aſſero perſimilem Silenis iſtis, qui
ſedentes inter alias imagines, a ſculptoribus figuran-
tur, ita ut fiſtulas tibiasve teneant, qui ſi bifariam
[Spaltenumbruch] dividantur, reperiuntur, intus habere imaginem
Deorum.
Platonis opera Marſil. Ficino interpr. p.
296.
Phyſ. Fragm. II Verſuch. J
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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/89>, abgerufen am 23.11.2024.