Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.VIII. Fragment. Sokrates Achtes Fragment. Sokrates nach einem alten Marmor von Rubens. Es ist fast Schande, in einem physiognomischen Werke nicht von Sokrates zu reden, -- Man hat die bekannte Anekdote von Zopyrus Urtheil über ihn, "daß er dumm, viehisch, Sokrates Bildnisse alle, so viel ich deren gesehen, haben sehr viele Aehnlichkeit unter sich, Jst dieß nicht ein unzerstörbares Argument gegen die Zuverlässigkeit der Physiognomie? -- Es ist dieß in der That so scheinbar, als je etwas in der Welt gewesen seyn mag; und den- um
VIII. Fragment. Sokrates Achtes Fragment. Sokrates nach einem alten Marmor von Rubens. Es iſt faſt Schande, in einem phyſiognomiſchen Werke nicht von Sokrates zu reden, — Man hat die bekannte Anekdote von Zopyrus Urtheil uͤber ihn, „daß er dumm, viehiſch, Sokrates Bildniſſe alle, ſo viel ich deren geſehen, haben ſehr viele Aehnlichkeit unter ſich, Jſt dieß nicht ein unzerſtoͤrbares Argument gegen die Zuverlaͤſſigkeit der Phyſiognomie? — Es iſt dieß in der That ſo ſcheinbar, als je etwas in der Welt geweſen ſeyn mag; und den- um
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VIII. Fragment. Sokrates
Achtes Fragment.
Sokrates nach einem alten Marmor von Rubens.
Es iſt faſt Schande, in einem phyſiognomiſchen Werke nicht von Sokrates zu reden, —
und Schande, von ihm zu reden — ſo viel iſt ſchon uͤber ſeine Phyſiognomie geredet worden.
Man hat die bekannte Anekdote von Zopyrus Urtheil uͤber ihn, „daß er dumm, viehiſch,
„wolluͤſtig und der Trunkenheit ergeben ſey,“ — und des Sokrates Antwort an ſeine, den Ge-
ſichtsdeuter ausziſchenden, Schuͤler: „daß er von Natur zu allen dieſen Laſtern geneigt waͤre, allein
„durch Uebung und Anſtrengung dieſe Neigungen zu unterdruͤcken geſucht haͤtte;“ — — man
hat, ſag’ ich, dieſe Anekdote fuͤr und wider die Wahrheit der Phyſiognomie tauſendmal ange-
fuͤhrt. — Laßt uns alſo auch Ein Wort daruͤber ſagen. —
Sokrates Bildniſſe alle, ſo viel ich deren geſehen, haben ſehr viele Aehnlichkeit unter ſich,
und man kann daher in Anſehung ihrer im Ganzen genommenen Aehnlichkeit mit dem Urbilde ziemlich
ſicher ſeyn; zumal wenn man das dazu nimmt, was Alcibiades, dem man gewiß richtige Beurtheilung
und Gefuͤhl der Menſchengeſtalt zutrauen darf, uͤber ſein Geſicht ſagt: (Jch verſteh’ es naͤmlich
nur von der Form des Geſichtes, uͤberhaupt betrachtet) — „daß er einem Silenus aͤhnlich ſey“ —
„und ſchwerlich, ſagt Winkelmann an einem Orte, kann die menſchliche Natur tiefer erniedriget
„werden, als in der Geſtalt eines Silenus“ — und doch war Sokrates aus allem, was wir
von ihm wiſſen, der unvergleichlichſte, der weiſeſte, der edelſte Menſch.
Jſt dieß nicht ein unzerſtoͤrbares Argument gegen die Zuverlaͤſſigkeit der Phyſiognomie? —
da ſich gegen keines von beyden, weder gegen die Haͤßlichkeit ſeiner Geſtalt, noch gegen die Vor-
trefflichkeit ſeines Charakters was Wichtiges einwenden laͤßt?
Es iſt dieß in der That ſo ſcheinbar, als je etwas in der Welt geweſen ſeyn mag; und den-
noch getraue ich mir verſchiedenes auf die Einwendung zu antworten, ohne auf den ſonderbaren,
um
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