Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

Bild:
<< vorherige Seite

VII. Fragment.
mehr am Abgrunde der Unredlichkeit -- und darum können sie leicht in die Gewohnheit hin-
einkommen, den Menschen, mit denen sie reden, nicht ins Gesichte sehen zu dürfen. Sie
treten so oft in eine Schmeicheley ein, wobey sie ihr Herz Lügen straft; so leicht lassen sie sich
in einen Spott über einen Redlichen, vielleicht gar über einen Freund, hinreissen -- Spott
über einen Freund? -- Nein, wer dessen fähig ist, ist nicht mehr eine edle, treffliche, gefühlvolle,
zärtliche Seele! Spott und Freundschaft -- können sich so wenig vertragen, als Christus
und Belial! aber -- zum Spott über etwas sonst Ehrwürdiges, Heiliges, Göttliches --
dazu kann auch eine redliche, schwache, blöde Seele -- ach! wie leicht hingerissen werden! wie
leicht -- aus Kraftlosigkeit zum Widerstand oder Widerspruch -- mir und dir versprechen, was
nur Einem von uns gehalten werden kann, beyden bejahen, was bey dem einen bejahet -- beym
andern verneint werden sollte! -- O Furchtsamkeit und Blödigkeit! du hast mehr Falsche und
Heuchler gemacht, als Eigennutz und Bosheit!

Doch ich lenke wieder ein -- Furchtsamkeit und Unaufrichtigkeit, Weichlichkeit
und Falschheit sind sich in ihrem Ausdrucke oft ziemlich ähnlich. Wer in der Falschheit sich
bejahret hat; wessen Furchtsamkeit mit Stolze gepaart, planvolle Kunst geworden ist, dem
wird's nimmermehr möglich seyn, herzöffnendes Gefühl der Aufrichtigkeit um sich her zu ver-
breiten. Er wird betrügen können. Aber wie? -- Man wird sagen: "Es ist unmöglich so
"zu reden, sich so zu äussern -- und es unredlich zu meynen." Aber man wird nicht sagen:
"Mein Herz hat das Herz gefühlt!" -- nicht sagen: "ha! wie wohl war mir bey dem Manne,
"wie leicht ward mir ums Herz! wie viel mehr las ich noch Treue -- und Gutherzigkeit in
"seinen Mienen, als alle seine Worte mir versicherten!" -- so wird man nicht sprechen, und
wenn man so spricht, man wird's nicht aus Ueberlegung, nicht mit innigem sichern Gefühl zwei-
felloser Wahrheit sprechen. Blick der Augen und Lächeln des Mundes -- du wirst's verra-
then! wenn man dich auch nicht bemerken, das Aug' vor dir verschließen, das Herz gegen dich
verhärten, dich vergessen, dich ignoriren will. --

Du wirst zuletzt, wenigstens wenn du betrogen bist, durch alle Räsonnements durchbre-
chen, Erstes tiefes, obgleich weggeworfenes, obgleich überworfenes Gefühl der Unredlichkeit!

Aber

VII. Fragment.
mehr am Abgrunde der Unredlichkeit — und darum koͤnnen ſie leicht in die Gewohnheit hin-
einkommen, den Menſchen, mit denen ſie reden, nicht ins Geſichte ſehen zu duͤrfen. Sie
treten ſo oft in eine Schmeicheley ein, wobey ſie ihr Herz Luͤgen ſtraft; ſo leicht laſſen ſie ſich
in einen Spott uͤber einen Redlichen, vielleicht gar uͤber einen Freund, hinreiſſen — Spott
uͤber einen Freund? — Nein, wer deſſen faͤhig iſt, iſt nicht mehr eine edle, treffliche, gefuͤhlvolle,
zaͤrtliche Seele! Spott und Freundſchaft — koͤnnen ſich ſo wenig vertragen, als Chriſtus
und Belial! aber — zum Spott uͤber etwas ſonſt Ehrwuͤrdiges, Heiliges, Goͤttliches —
dazu kann auch eine redliche, ſchwache, bloͤde Seele — ach! wie leicht hingeriſſen werden! wie
leicht — aus Kraftloſigkeit zum Widerſtand oder Widerſpruch — mir und dir verſprechen, was
nur Einem von uns gehalten werden kann, beyden bejahen, was bey dem einen bejahet — beym
andern verneint werden ſollte! — O Furchtſamkeit und Bloͤdigkeit! du haſt mehr Falſche und
Heuchler gemacht, als Eigennutz und Bosheit!

Doch ich lenke wieder ein — Furchtſamkeit und Unaufrichtigkeit, Weichlichkeit
und Falſchheit ſind ſich in ihrem Ausdrucke oft ziemlich aͤhnlich. Wer in der Falſchheit ſich
bejahret hat; weſſen Furchtſamkeit mit Stolze gepaart, planvolle Kunſt geworden iſt, dem
wird’s nimmermehr moͤglich ſeyn, herzoͤffnendes Gefuͤhl der Aufrichtigkeit um ſich her zu ver-
breiten. Er wird betruͤgen koͤnnen. Aber wie? — Man wird ſagen: „Es iſt unmoͤglich ſo
„zu reden, ſich ſo zu aͤuſſern — und es unredlich zu meynen.“ Aber man wird nicht ſagen:
„Mein Herz hat das Herz gefuͤhlt!“ — nicht ſagen: „ha! wie wohl war mir bey dem Manne,
„wie leicht ward mir ums Herz! wie viel mehr las ich noch Treue — und Gutherzigkeit in
„ſeinen Mienen, als alle ſeine Worte mir verſicherten!“ — ſo wird man nicht ſprechen, und
wenn man ſo ſpricht, man wird’s nicht aus Ueberlegung, nicht mit innigem ſichern Gefuͤhl zwei-
felloſer Wahrheit ſprechen. Blick der Augen und Laͤcheln des Mundes — du wirſt’s verra-
then! wenn man dich auch nicht bemerken, das Aug’ vor dir verſchließen, das Herz gegen dich
verhaͤrten, dich vergeſſen, dich ignoriren will. —

Du wirſt zuletzt, wenigſtens wenn du betrogen biſt, durch alle Raͤſonnements durchbre-
chen, Erſtes tiefes, obgleich weggeworfenes, obgleich uͤberworfenes Gefuͤhl der Unredlichkeit!

Aber
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <p><pb facs="#f0084" n="62"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g"><hi rendition="#aq">VII.</hi> Fragment.</hi></hi></fw><lb/>
mehr am Abgrunde der Unredlichkeit &#x2014; und darum ko&#x0364;nnen &#x017F;ie leicht in die Gewohnheit hin-<lb/>
einkommen, den Men&#x017F;chen, mit denen &#x017F;ie reden, nicht ins Ge&#x017F;ichte &#x017F;ehen zu du&#x0364;rfen. Sie<lb/>
treten &#x017F;o oft in eine Schmeicheley ein, wobey &#x017F;ie ihr Herz Lu&#x0364;gen &#x017F;traft; &#x017F;o leicht la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
in einen Spott u&#x0364;ber einen Redlichen, vielleicht gar u&#x0364;ber einen Freund, hinrei&#x017F;&#x017F;en &#x2014; <hi rendition="#fr">Spott</hi><lb/>
u&#x0364;ber einen <hi rendition="#fr">Freund?</hi> &#x2014; Nein, wer de&#x017F;&#x017F;en fa&#x0364;hig i&#x017F;t, i&#x017F;t nicht mehr eine edle, treffliche, gefu&#x0364;hlvolle,<lb/>
za&#x0364;rtliche Seele! <hi rendition="#fr">Spott</hi> und <hi rendition="#fr">Freund&#x017F;chaft</hi> &#x2014; ko&#x0364;nnen &#x017F;ich &#x017F;o wenig vertragen, als Chri&#x017F;tus<lb/>
und Belial! aber &#x2014; zum Spott u&#x0364;ber etwas &#x017F;on&#x017F;t Ehrwu&#x0364;rdiges, Heiliges, Go&#x0364;ttliches &#x2014;<lb/>
dazu kann auch eine redliche, &#x017F;chwache, blo&#x0364;de Seele &#x2014; ach! wie leicht hingeri&#x017F;&#x017F;en werden! wie<lb/>
leicht &#x2014; aus Kraftlo&#x017F;igkeit zum Wider&#x017F;tand oder Wider&#x017F;pruch &#x2014; mir und dir ver&#x017F;prechen, was<lb/>
nur Einem von uns gehalten werden kann, beyden bejahen, was bey dem einen bejahet &#x2014; beym<lb/>
andern verneint werden &#x017F;ollte! &#x2014; O Furcht&#x017F;amkeit und Blo&#x0364;digkeit! du ha&#x017F;t mehr Fal&#x017F;che und<lb/>
Heuchler gemacht, als Eigennutz und Bosheit!</p><lb/>
        <p>Doch ich lenke wieder ein &#x2014; <hi rendition="#fr">Furcht&#x017F;amkeit</hi> und <hi rendition="#fr">Unaufrichtigkeit, Weichlichkeit</hi><lb/>
und <hi rendition="#fr">Fal&#x017F;chheit</hi> &#x017F;ind &#x017F;ich in ihrem Ausdrucke oft ziemlich a&#x0364;hnlich. Wer in der Fal&#x017F;chheit &#x017F;ich<lb/>
bejahret hat; we&#x017F;&#x017F;en Furcht&#x017F;amkeit mit Stolze gepaart, planvolle Kun&#x017F;t geworden i&#x017F;t, dem<lb/>
wird&#x2019;s nimmermehr mo&#x0364;glich &#x017F;eyn, herzo&#x0364;ffnendes Gefu&#x0364;hl der Aufrichtigkeit um &#x017F;ich her zu ver-<lb/>
breiten. Er wird betru&#x0364;gen ko&#x0364;nnen. Aber wie? &#x2014; Man wird &#x017F;agen: &#x201E;Es i&#x017F;t unmo&#x0364;glich &#x017F;o<lb/>
&#x201E;zu reden, &#x017F;ich &#x017F;o zu a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;ern &#x2014; und es unredlich zu meynen.&#x201C; Aber man wird nicht &#x017F;agen:<lb/>
&#x201E;Mein Herz hat das Herz gefu&#x0364;hlt!&#x201C; &#x2014; nicht &#x017F;agen: &#x201E;ha! wie wohl war mir bey dem Manne,<lb/>
&#x201E;wie leicht ward mir ums Herz! wie viel mehr las ich noch Treue &#x2014; und Gutherzigkeit in<lb/>
&#x201E;&#x017F;einen Mienen, als alle &#x017F;eine Worte mir ver&#x017F;icherten!&#x201C; &#x2014; &#x017F;o wird man nicht &#x017F;prechen, und<lb/>
wenn man &#x017F;o &#x017F;pricht, man wird&#x2019;s nicht aus Ueberlegung, nicht mit innigem &#x017F;ichern Gefu&#x0364;hl zwei-<lb/>
fello&#x017F;er Wahrheit &#x017F;prechen. Blick der Augen und La&#x0364;cheln des Mundes &#x2014; du wir&#x017F;t&#x2019;s verra-<lb/>
then! wenn man dich auch nicht bemerken, das Aug&#x2019; vor dir ver&#x017F;chließen, das Herz gegen dich<lb/>
verha&#x0364;rten, dich verge&#x017F;&#x017F;en, dich ignoriren will. &#x2014;</p><lb/>
        <p>Du wir&#x017F;t zuletzt, wenig&#x017F;tens wenn du betrogen bi&#x017F;t, durch alle Ra&#x0364;&#x017F;onnements durchbre-<lb/>
chen, Er&#x017F;tes tiefes, obgleich weggeworfenes, obgleich u&#x0364;berworfenes Gefu&#x0364;hl der Unredlichkeit!</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch">Aber</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[62/0084] VII. Fragment. mehr am Abgrunde der Unredlichkeit — und darum koͤnnen ſie leicht in die Gewohnheit hin- einkommen, den Menſchen, mit denen ſie reden, nicht ins Geſichte ſehen zu duͤrfen. Sie treten ſo oft in eine Schmeicheley ein, wobey ſie ihr Herz Luͤgen ſtraft; ſo leicht laſſen ſie ſich in einen Spott uͤber einen Redlichen, vielleicht gar uͤber einen Freund, hinreiſſen — Spott uͤber einen Freund? — Nein, wer deſſen faͤhig iſt, iſt nicht mehr eine edle, treffliche, gefuͤhlvolle, zaͤrtliche Seele! Spott und Freundſchaft — koͤnnen ſich ſo wenig vertragen, als Chriſtus und Belial! aber — zum Spott uͤber etwas ſonſt Ehrwuͤrdiges, Heiliges, Goͤttliches — dazu kann auch eine redliche, ſchwache, bloͤde Seele — ach! wie leicht hingeriſſen werden! wie leicht — aus Kraftloſigkeit zum Widerſtand oder Widerſpruch — mir und dir verſprechen, was nur Einem von uns gehalten werden kann, beyden bejahen, was bey dem einen bejahet — beym andern verneint werden ſollte! — O Furchtſamkeit und Bloͤdigkeit! du haſt mehr Falſche und Heuchler gemacht, als Eigennutz und Bosheit! Doch ich lenke wieder ein — Furchtſamkeit und Unaufrichtigkeit, Weichlichkeit und Falſchheit ſind ſich in ihrem Ausdrucke oft ziemlich aͤhnlich. Wer in der Falſchheit ſich bejahret hat; weſſen Furchtſamkeit mit Stolze gepaart, planvolle Kunſt geworden iſt, dem wird’s nimmermehr moͤglich ſeyn, herzoͤffnendes Gefuͤhl der Aufrichtigkeit um ſich her zu ver- breiten. Er wird betruͤgen koͤnnen. Aber wie? — Man wird ſagen: „Es iſt unmoͤglich ſo „zu reden, ſich ſo zu aͤuſſern — und es unredlich zu meynen.“ Aber man wird nicht ſagen: „Mein Herz hat das Herz gefuͤhlt!“ — nicht ſagen: „ha! wie wohl war mir bey dem Manne, „wie leicht ward mir ums Herz! wie viel mehr las ich noch Treue — und Gutherzigkeit in „ſeinen Mienen, als alle ſeine Worte mir verſicherten!“ — ſo wird man nicht ſprechen, und wenn man ſo ſpricht, man wird’s nicht aus Ueberlegung, nicht mit innigem ſichern Gefuͤhl zwei- felloſer Wahrheit ſprechen. Blick der Augen und Laͤcheln des Mundes — du wirſt’s verra- then! wenn man dich auch nicht bemerken, das Aug’ vor dir verſchließen, das Herz gegen dich verhaͤrten, dich vergeſſen, dich ignoriren will. — Du wirſt zuletzt, wenigſtens wenn du betrogen biſt, durch alle Raͤſonnements durchbre- chen, Erſtes tiefes, obgleich weggeworfenes, obgleich uͤberworfenes Gefuͤhl der Unredlichkeit! Aber

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/84
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/84>, abgerufen am 24.11.2024.