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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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VII. Fragment.
"volonte s'y oppose, elle les bride, les tient prisonniers, elle s'efforce d'en detourner le
"cours & les effets, pour donner le change. Mais il s'en echappe beaucoup, & les
"fuyards vont porter des nouvelles certaines de ce, qui se passe dans le secret du con-
"seil. Ainsi plus on veut cacher le vrai, plus le trouble augmente, & mieux on se de-
"couvre."
*) So denke ich mit Dom Pernetty.

Jndem ich dieses schreibe, ereignet sich eben ein hieher gehöriges trauriges Beyspiel; ich
weiß nicht, ob wider, oder für mich?

Zwo Personen, von ungefähr 24. Jahren, sind mehr als einmal vor mir erschienen, und be-
zeugen zugleich mit der möglichsten Dreistigkeit zwo sich vollkommen widersprechende Sachen -- **)
Eine: "Du bist Vater meines Kindes" -- die andere: "Jch habe dich nie berühret." -- Bey-
de müssen wissen, daß eine von diesen Aussagen wahr, die andere falsch ist; eine von beyden Per-
sonen muß wissentlich Wahrheit, die andere wissentlich Lügen reden. Also stehen die boshaf-
teste Verläumdung und die leidendste Unschuld vor mir? -- "Also muß sich eine von beyden
"erstaunlich verstellen können? -- Also kann die boshafteste Lüge die Miene der leidendsten Un-
"schuld annehmen?" -- Ja, sie kann's! und es ist schrecklich, daß sie's kann; oder vielmehr:
Nicht, daß sie's kann -- denn das ist Vorrecht der freyen Menschennatur, deren Vollkommen-
heit und Ehre nicht allein ihre gränzenlose Perfektibilität, sondern auch ihre gränzenlose Cor-
ruptibilität ist -- denn erst diese letztere giebt der würklichen freywilligen moralischen Verbesse-
rung und Vervollkommnung des Menschen ihren größten Werth -- Also -- es ist erschreck-
lich; nicht, daß die boshafte Lüge die Miene der leidendsten Unschuld annehmen kann, sondern
daß sie diese Miene annimmt.

Also
*) Memoires de l'Acad. de Berl. Tom. XXV. p.
444.
**) Arvieux Reisen, 3. Theil, 14. Kapitel.
"Die arabischen Richter sind so genau in ihrer Sa-
"che, daß der Leute Ansehen, ihre Gebehrden, der Ton
"der Stimme, die Bewegung der Augen, die Farbe des
[Spaltenumbruch] "Gesichts, mit einem Worte, alles Aeusserliche, in Be-
"trachtung gezogen, und untersucht wird, und ihnen
"dienen muß, die Wahrheit, welche die, so den Rechts-
"handel führen, oft aus Eigennutz verbergen, heraus-
"zubringen."

VII. Fragment.
volonté s’y oppoſe, elle les bride, les tient priſonniers, elle s’efforce d’en détourner le
„cours & les effets, pour donner le change. Mais il s’en échappe beaucoup, & les
„fuyards vont porter des nouvelles certaines de ce, qui ſe paſſe dans le ſecret du con-
„ſeil. Ainſi plus on veut cacher le vrai, plus le trouble augmente, & mieux on ſe de-
„couvre.“
*) So denke ich mit Dom Pernetty.

Jndem ich dieſes ſchreibe, ereignet ſich eben ein hieher gehoͤriges trauriges Beyſpiel; ich
weiß nicht, ob wider, oder fuͤr mich?

Zwo Perſonen, von ungefaͤhr 24. Jahren, ſind mehr als einmal vor mir erſchienen, und be-
zeugen zugleich mit der moͤglichſten Dreiſtigkeit zwo ſich vollkommen widerſprechende Sachen — **)
Eine: „Du biſt Vater meines Kindes“ — die andere: „Jch habe dich nie beruͤhret.“ — Bey-
de muͤſſen wiſſen, daß eine von dieſen Ausſagen wahr, die andere falſch iſt; eine von beyden Per-
ſonen muß wiſſentlich Wahrheit, die andere wiſſentlich Luͤgen reden. Alſo ſtehen die boshaf-
teſte Verlaͤumdung und die leidendſte Unſchuld vor mir? — „Alſo muß ſich eine von beyden
„erſtaunlich verſtellen koͤnnen? — Alſo kann die boshafteſte Luͤge die Miene der leidendſten Un-
„ſchuld annehmen?“ — Ja, ſie kann’s! und es iſt ſchrecklich, daß ſie’s kann; oder vielmehr:
Nicht, daß ſie’s kann — denn das iſt Vorrecht der freyen Menſchennatur, deren Vollkommen-
heit und Ehre nicht allein ihre graͤnzenloſe Perfektibilitaͤt, ſondern auch ihre graͤnzenloſe Cor-
ruptibilitaͤt iſt — denn erſt dieſe letztere giebt der wuͤrklichen freywilligen moraliſchen Verbeſſe-
rung und Vervollkommnung des Menſchen ihren groͤßten Werth — Alſo — es iſt erſchreck-
lich; nicht, daß die boshafte Luͤge die Miene der leidendſten Unſchuld annehmen kann, ſondern
daß ſie dieſe Miene annimmt.

Alſo
*) Mémoires de l’Acad. de Berl. Tom. XXV. p.
444.
**) Arvieux Reiſen, 3. Theil, 14. Kapitel.
„Die arabiſchen Richter ſind ſo genau in ihrer Sa-
„che, daß der Leute Anſehen, ihre Gebehrden, der Ton
„der Stimme, die Bewegung der Augen, die Farbe des
[Spaltenumbruch] „Geſichts, mit einem Worte, alles Aeuſſerliche, in Be-
„trachtung gezogen, und unterſucht wird, und ihnen
„dienen muß, die Wahrheit, welche die, ſo den Rechts-
„handel fuͤhren, oft aus Eigennutz verbergen, heraus-
„zubringen.“
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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/80>, abgerufen am 24.11.2024.