Siebentes Fragment. Ueber Verstellung, Falschheit und Aufrichtigkeit.
Eine der gemeinsten und mächtigsten Einwendungen gegen die Zuverlässigkeit der Physiogno- mik, ist die allgemeine aufs höchste getriebene Verstellungskunst der Menschen. Wir werden sehr viel gewonnen haben, wenn wir diese Einwendung gründlich werden beantworten können.
"Die Menschen, sagt man, geben sich alle erdenkliche Mühe, weiser, besser, redlicher "zu scheinen, als sie sind. Sie studieren die Miene, den Ton, die Gebehrden der heitersten "Redlichkeit. Es gelingt ihnen in ihrer Kunst. Sie können täuschen und betrügen; sie kön- "nen jeden Zweifel, jeden Verdacht in Absicht auf ihre Redlichkeit zerstreuen und entfernen. "Die verständigsten, die scharfsichtigsten Menschenkenner, und solche sogar, die sich mit Beob- "achtung der Physiognomien abgeben, sind oft durch ihr angenommenes Wesen betrogen wor- "den, und werden täglich dadurch betrogen; -- wie kann also die Physiognomik jemals eine "zuverlässige Wissenschaft werden?"
Dieß ist die Einwendung, die ich in ihrer ganzen Stärke vorzutragen glaube. Jch will antworten.
Vor allen Dingen will ich vollkommen zugeben -- "Man kann es in der Verstellungs- "kunst erstaunlich weit bringen -- und erstaunlich können sich deswegen auch scharfsichtige Men- "schen in der Beurtheilung des Menschen irren."
Allein, ungeachtet ich dieses von ganzem Herzen zugebe, halt' ich dennoch die Einwen- dung, in Absicht auf die Zuverlässigkeit der Physiognomik, bey weitem für so wichtig nicht, als man gemeiniglich glaubt und andre glauben machen will, und dieses vornehmlich um zweyer Gründe willen.
Fürs erste -- "weil es unzählige Dinge in dem Aeussern des Menschen giebt, wobey nicht "die mindeste Verstellung Statt hat, und gerade solche Dinge, welche sehr zuverlässige Merk- "male seines innern Charakters sind."
Zweytens,
Siebentes Fragment. Ueber Verſtellung, Falſchheit und Aufrichtigkeit.
Eine der gemeinſten und maͤchtigſten Einwendungen gegen die Zuverlaͤſſigkeit der Phyſiogno- mik, iſt die allgemeine aufs hoͤchſte getriebene Verſtellungskunſt der Menſchen. Wir werden ſehr viel gewonnen haben, wenn wir dieſe Einwendung gruͤndlich werden beantworten koͤnnen.
„Die Menſchen, ſagt man, geben ſich alle erdenkliche Muͤhe, weiſer, beſſer, redlicher „zu ſcheinen, als ſie ſind. Sie ſtudieren die Miene, den Ton, die Gebehrden der heiterſten „Redlichkeit. Es gelingt ihnen in ihrer Kunſt. Sie koͤnnen taͤuſchen und betruͤgen; ſie koͤn- „nen jeden Zweifel, jeden Verdacht in Abſicht auf ihre Redlichkeit zerſtreuen und entfernen. „Die verſtaͤndigſten, die ſcharfſichtigſten Menſchenkenner, und ſolche ſogar, die ſich mit Beob- „achtung der Phyſiognomien abgeben, ſind oft durch ihr angenommenes Weſen betrogen wor- „den, und werden taͤglich dadurch betrogen; — wie kann alſo die Phyſiognomik jemals eine „zuverlaͤſſige Wiſſenſchaft werden?“
Dieß iſt die Einwendung, die ich in ihrer ganzen Staͤrke vorzutragen glaube. Jch will antworten.
Vor allen Dingen will ich vollkommen zugeben — „Man kann es in der Verſtellungs- „kunſt erſtaunlich weit bringen — und erſtaunlich koͤnnen ſich deswegen auch ſcharfſichtige Men- „ſchen in der Beurtheilung des Menſchen irren.“
Allein, ungeachtet ich dieſes von ganzem Herzen zugebe, halt’ ich dennoch die Einwen- dung, in Abſicht auf die Zuverlaͤſſigkeit der Phyſiognomik, bey weitem fuͤr ſo wichtig nicht, als man gemeiniglich glaubt und andre glauben machen will, und dieſes vornehmlich um zweyer Gruͤnde willen.
Fuͤrs erſte — „weil es unzaͤhlige Dinge in dem Aeuſſern des Menſchen giebt, wobey nicht „die mindeſte Verſtellung Statt hat, und gerade ſolche Dinge, welche ſehr zuverlaͤſſige Merk- „male ſeines innern Charakters ſind.“
Zweytens,
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Siebentes Fragment.
Ueber Verſtellung, Falſchheit und Aufrichtigkeit.
Eine der gemeinſten und maͤchtigſten Einwendungen gegen die Zuverlaͤſſigkeit der Phyſiogno-
mik, iſt die allgemeine aufs hoͤchſte getriebene Verſtellungskunſt der Menſchen. Wir werden
ſehr viel gewonnen haben, wenn wir dieſe Einwendung gruͤndlich werden beantworten koͤnnen.
„Die Menſchen, ſagt man, geben ſich alle erdenkliche Muͤhe, weiſer, beſſer, redlicher
„zu ſcheinen, als ſie ſind. Sie ſtudieren die Miene, den Ton, die Gebehrden der heiterſten
„Redlichkeit. Es gelingt ihnen in ihrer Kunſt. Sie koͤnnen taͤuſchen und betruͤgen; ſie koͤn-
„nen jeden Zweifel, jeden Verdacht in Abſicht auf ihre Redlichkeit zerſtreuen und entfernen.
„Die verſtaͤndigſten, die ſcharfſichtigſten Menſchenkenner, und ſolche ſogar, die ſich mit Beob-
„achtung der Phyſiognomien abgeben, ſind oft durch ihr angenommenes Weſen betrogen wor-
„den, und werden taͤglich dadurch betrogen; — wie kann alſo die Phyſiognomik jemals eine
„zuverlaͤſſige Wiſſenſchaft werden?“
Dieß iſt die Einwendung, die ich in ihrer ganzen Staͤrke vorzutragen glaube. Jch will
antworten.
Vor allen Dingen will ich vollkommen zugeben — „Man kann es in der Verſtellungs-
„kunſt erſtaunlich weit bringen — und erſtaunlich koͤnnen ſich deswegen auch ſcharfſichtige Men-
„ſchen in der Beurtheilung des Menſchen irren.“
Allein, ungeachtet ich dieſes von ganzem Herzen zugebe, halt’ ich dennoch die Einwen-
dung, in Abſicht auf die Zuverlaͤſſigkeit der Phyſiognomik, bey weitem fuͤr ſo wichtig nicht, als
man gemeiniglich glaubt und andre glauben machen will, und dieſes vornehmlich um zweyer
Gruͤnde willen.
Fuͤrs erſte — „weil es unzaͤhlige Dinge in dem Aeuſſern des Menſchen giebt, wobey nicht
„die mindeſte Verſtellung Statt hat, und gerade ſolche Dinge, welche ſehr zuverlaͤſſige Merk-
„male ſeines innern Charakters ſind.“
Zweytens,
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/77>, abgerufen am 23.02.2025.
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