Sechstes Fragment. Beantwortung einiger vermischten besondern Einwendungen gegen die Physiognomik.
I.Einwendung.
"Man siehet, sagt man, Leute, die beständig von frühen Jahren an, ohne Krankheit, ohne "Schwelgerey, ein wahres hippokratisches Todtengesicht bis ins höchste Alter, und doch immer "die stärkste und unverrückteste Gesundheit hatten." --
Beantwortung.
Diese Fälle sind selten. Es sind immer tausend Menschen, deren Gesichtsfarbe und Um- riß ihrer Gesundheit entspricht, gegen Einen, bey dem diese sich zu widersprechen scheinen. -- Jch vermuthe indeß, diese seltenen Fälle rühren gemeiniglich von Eindrücken auf die Mutter wäh- rend der Schwangerschaft her. "Unter andern hier einschlagenden Räthseln, schreibt mir ein Freund, -- "will ich Jhnen nur eine Gattung vorlegen: die Erbkrankheiten. -- Rachitische, "venerische Affecte, die die Kinder erst in einem gewissen Alter als ihr Erbtheil bemerken, die "Arthritis, das Podagra, sind allzu bekannt. Aber Borelli erzählt einen Vorfall von zween "Jünglingen, die, ohne eine äusserliche Verletzung, in ebendemselben Jahre, nämlich im funfzehn- "ten, da ihr Vater durch einen besondern Zufall lahm geworden, gleichen Fehler bekommen." -- So kann's, wie viel leichter? -- mit dem hippokratischen Gesichte seyn? wie kann ein Schrecken der schwangern Mutter diese Blässe so viel erklärbarer verursachen, als so ein Fall -- Gott weiß, nach welchem uns unerforschbaren Gesetze der Einbildungskraft? oder Sympathie? oder Jnfluenz? verursacht worden? -- -- Solche Fälle können als Ausnahmen, deren zufällige Ursachen jedoch so schwer nicht zu ergründen sind, angesehen werden.
Man kann, deucht mir, daher so wenig gegen die Physiognomik schließen, als daraus, daß es Zwerge und Riesen und disproportionirte Mißgeburten giebt, sich wider die Regeln von dem Ver- hältnisse und Ebenmaße des menschlichen Körpers schließen läßt.
II. Ein-
VI. Fragment. Beantwortung
Sechstes Fragment. Beantwortung einiger vermiſchten beſondern Einwendungen gegen die Phyſiognomik.
I.Einwendung.
„Man ſiehet, ſagt man, Leute, die beſtaͤndig von fruͤhen Jahren an, ohne Krankheit, ohne „Schwelgerey, ein wahres hippokratiſches Todtengeſicht bis ins hoͤchſte Alter, und doch immer „die ſtaͤrkſte und unverruͤckteſte Geſundheit hatten.“ —
Beantwortung.
Dieſe Faͤlle ſind ſelten. Es ſind immer tauſend Menſchen, deren Geſichtsfarbe und Um- riß ihrer Geſundheit entſpricht, gegen Einen, bey dem dieſe ſich zu widerſprechen ſcheinen. — Jch vermuthe indeß, dieſe ſeltenen Faͤlle ruͤhren gemeiniglich von Eindruͤcken auf die Mutter waͤh- rend der Schwangerſchaft her. „Unter andern hier einſchlagenden Raͤthſeln, ſchreibt mir ein Freund, — „will ich Jhnen nur eine Gattung vorlegen: die Erbkrankheiten. — Rachitiſche, „veneriſche Affecte, die die Kinder erſt in einem gewiſſen Alter als ihr Erbtheil bemerken, die „Arthritis, das Podagra, ſind allzu bekannt. Aber Borelli erzaͤhlt einen Vorfall von zween „Juͤnglingen, die, ohne eine aͤuſſerliche Verletzung, in ebendemſelben Jahre, naͤmlich im funfzehn- „ten, da ihr Vater durch einen beſondern Zufall lahm geworden, gleichen Fehler bekommen.“ — So kann’s, wie viel leichter? — mit dem hippokratiſchen Geſichte ſeyn? wie kann ein Schrecken der ſchwangern Mutter dieſe Blaͤſſe ſo viel erklaͤrbarer verurſachen, als ſo ein Fall — Gott weiß, nach welchem uns unerforſchbaren Geſetze der Einbildungskraft? oder Sympathie? oder Jnfluenz? verurſacht worden? — — Solche Faͤlle koͤnnen als Ausnahmen, deren zufaͤllige Urſachen jedoch ſo ſchwer nicht zu ergruͤnden ſind, angeſehen werden.
Man kann, deucht mir, daher ſo wenig gegen die Phyſiognomik ſchließen, als daraus, daß es Zwerge und Rieſen und disproportionirte Mißgeburten giebt, ſich wider die Regeln von dem Ver- haͤltniſſe und Ebenmaße des menſchlichen Koͤrpers ſchließen laͤßt.
II. Ein-
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VI. Fragment. Beantwortung
Sechstes Fragment.
Beantwortung einiger vermiſchten beſondern Einwendungen gegen die
Phyſiognomik.
I. Einwendung.
„Man ſiehet, ſagt man, Leute, die beſtaͤndig von fruͤhen Jahren an, ohne Krankheit, ohne
„Schwelgerey, ein wahres hippokratiſches Todtengeſicht bis ins hoͤchſte Alter, und doch immer
„die ſtaͤrkſte und unverruͤckteſte Geſundheit hatten.“ —
Beantwortung.
Dieſe Faͤlle ſind ſelten. Es ſind immer tauſend Menſchen, deren Geſichtsfarbe und Um-
riß ihrer Geſundheit entſpricht, gegen Einen, bey dem dieſe ſich zu widerſprechen ſcheinen. —
Jch vermuthe indeß, dieſe ſeltenen Faͤlle ruͤhren gemeiniglich von Eindruͤcken auf die Mutter waͤh-
rend der Schwangerſchaft her. „Unter andern hier einſchlagenden Raͤthſeln, ſchreibt mir ein
Freund, — „will ich Jhnen nur eine Gattung vorlegen: die Erbkrankheiten. — Rachitiſche,
„veneriſche Affecte, die die Kinder erſt in einem gewiſſen Alter als ihr Erbtheil bemerken, die
„Arthritis, das Podagra, ſind allzu bekannt. Aber Borelli erzaͤhlt einen Vorfall von zween
„Juͤnglingen, die, ohne eine aͤuſſerliche Verletzung, in ebendemſelben Jahre, naͤmlich im funfzehn-
„ten, da ihr Vater durch einen beſondern Zufall lahm geworden, gleichen Fehler bekommen.“ —
So kann’s, wie viel leichter? — mit dem hippokratiſchen Geſichte ſeyn? wie kann ein Schrecken
der ſchwangern Mutter dieſe Blaͤſſe ſo viel erklaͤrbarer verurſachen, als ſo ein Fall — Gott weiß,
nach welchem uns unerforſchbaren Geſetze der Einbildungskraft? oder Sympathie? oder Jnfluenz?
verurſacht worden? — — Solche Faͤlle koͤnnen als Ausnahmen, deren zufaͤllige Urſachen jedoch
ſo ſchwer nicht zu ergruͤnden ſind, angeſehen werden.
Man kann, deucht mir, daher ſo wenig gegen die Phyſiognomik ſchließen, als daraus, daß
es Zwerge und Rieſen und disproportionirte Mißgeburten giebt, ſich wider die Regeln von dem Ver-
haͤltniſſe und Ebenmaße des menſchlichen Koͤrpers ſchließen laͤßt.
II. Ein-
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/70>, abgerufen am 23.02.2025.
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