Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Thaten gegen mich -- verabscheue. Was ich hier als wahre Erfahrung getreulich sage -- wirdjeder Physiognomist, der Mensch ist -- unfehlbar erfahren. Noch mehr. Wie die Barmherzigkeit durch Anblick physischen Elendes erweckt, genährt, Jch beschließe dieß Fragment eines Fragments mit einer Stelle aus einem berühmten "Das heißt -- die schlimmen Menschen denken ohnehin Arges in ihrem Herzen von allen Freylich *) Deutscher Merkur 1775.
der Menſchenkenntniß und Menſchenliebe. Thaten gegen mich — verabſcheue. Was ich hier als wahre Erfahrung getreulich ſage — wirdjeder Phyſiognomiſt, der Menſch iſt — unfehlbar erfahren. Noch mehr. Wie die Barmherzigkeit durch Anblick phyſiſchen Elendes erweckt, genaͤhrt, Jch beſchließe dieß Fragment eines Fragments mit einer Stelle aus einem beruͤhmten „Das heißt — die ſchlimmen Menſchen denken ohnehin Arges in ihrem Herzen von allen Freylich *) Deutſcher Merkur 1775.
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der Menſchenkenntniß und Menſchenliebe.
Thaten gegen mich — verabſcheue. Was ich hier als wahre Erfahrung getreulich ſage — wird
jeder Phyſiognomiſt, der Menſch iſt — unfehlbar erfahren.
Noch mehr. Wie die Barmherzigkeit durch Anblick phyſiſchen Elendes erweckt, genaͤhrt,
und entflammt wird — ſo das edelſte und weiſeſte Mitleiden mit der Menſchheit durch feines
Wahrnehmen und Empfinden des Verfalls der Menſchheit — und wem iſt das eigner, als dem
aͤchten Phyſiognomiſten? das edelſte Mitleiden — ſag’ ich, denn es bezieht ſich unmittelbar auf
den beſtimmten, gegenwaͤrtigen Menſchen, auf ſein geheimes aber tiefes Elend — das nicht auſſer
ihm, das in ihm iſt — das weiſeſte Mitleiden! — Denn, weil es den Schaden als innerlich er-
kennt und anſchaut, denkt’s nicht auf Palliatife, ſondern innere tief wuͤrkende Mittel, auf Ver-
beſſerung der Wurzel! auf Mittel, die nicht zuruͤckprallen! auf Mittel, wozu man empfaͤngliche
Seiten wahrnimmt!
Jch beſchließe dieß Fragment eines Fragments mit einer Stelle aus einem beruͤhmten
Schriftſteller, die hieher zu gehoͤren ſcheint, und als Einwendung oder Beſtaͤtigung angefuͤhrt zu
werden verdient. „Jn der That, heißt’s, Momus war nicht klug mit ſeinem Fenſter vors menſch-
„liche Herz. Die beſten Menſchen wuͤrden gerade am ſchlimmſten dabey gefahren ſeyn.“ —
„Das heißt — die ſchlimmen Menſchen denken ohnehin Arges in ihrem Herzen von allen
„andern, denn keiner von ihnen haͤlt andere Leute fuͤr beſſer, als ſich ſelbſt; und da keine Kraͤhe
„der andern die Augen aushackt, ſo wagen die Boͤſen nichts dabey, wenn ſie einander uͤber der
„That ertappen; denn ſie haben ein augenſcheinliches Jntereſſe ſaͤuberlich mit einander zu verfah-
„ren. Die beſten Menſchen hingegen denken, ſo lang es nur immer moͤglich iſt, von jeder-
„mann Gutes, und hierinn beſteht ein ſo großer Theil ihrer Gluͤckſeligkeit, daß ſie nothwendig
„ſehr ungluͤcklich werden muͤßten, wenn ein Fenſter vor der Bruſt der Leute ſie auf einmal aus
„dem angenehmen Jrrthum in die traurige Gewißheit verſetzte, von ſo vielen falſchen und boͤſen
„Geſchoͤpfen umgeben zu ſeyn. Es iſt alſo klar, daß die beſten am meiſten dabey verloren haͤt-
„ten, wenn Momus mit ſeinem vorbeſagten Vorſchlag, den Menſchen ein Fenſter vor die Bruſt
„zu ſetzen, durchgedrungen waͤre.“ *)
Freylich
*) Deutſcher Merkur 1775.
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