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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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der Menschenkenntniß und Menschenliebe.

Mithin -- "daß Menschenkenntniß der Menschenliebe im Ganzen nichts schade," -- "ob
"aber nützet?" -- Ja -- "daß sie ihr nützet!" --

Menschenkenntniß lehrt uns nicht nur, was der Mensch nicht ist, -- und nicht seyn
kann;
sondern auch: warum er's nicht ist, und nicht seyn kann? sondern auch: was er ist und
seyn kann?

Befremdung -- diese so reiche Quelle von Jntoleranz, nimmt in ebendemselben Grade
ab, wie die ächte Menschenkenntniß zunimmt.

Wenn du weißt, warum ein Mensch so denkt, so handelt -- das heißt, wenn du dich in
seine Lage, wie viel mehr? wenn du dich in den Bau seines Körpers, seine Bildung, seine Sin-
ne, sein Temperament, seine Empfindsamkeit, hinein denken kannst; wie wird dir alles begreiflich?
erklärbar? natürlich? -- und hört denn nicht gerade da die Jntoleranz, die sich bloß auf die Men-
schen, als Objekt, bezieht, auf -- wo lichthelle Erkenntniß seiner individuellen Natur anfängt?
wird da nicht viel eher Mitleiden an die Stelle der Verdammung, und brüderliche Nachsicht an
die Stelle des Hasses treten? --

Jch will damit Fehlern nicht das Wort reden, viel weniger Laster, als solche, in den Schutz
nehmen; aber es ist allgemein angenommene richtige Billigkeit -- daß man z. E. einem hitzigen
Menschen eher vergeben könne, wenn er sich durch harte Beleidigungen zum Zorne reizen läßt, als
einem kältern.

Allein nicht nur von dieser Seite -- (ich berühre hier die Sache nur) gewinnt der Fehler-
hafte durch physiognomische Menschenkenntniß anderer. Er gewinnt noch von einer andern.

Die Physiognomik entdeckt in ihm würkliche und mögliche Vollkommenheiten, die ohne sie
immer verborgen bleiben könnten. Je mehr der Mensch beobachtet wird, desto mehr Kraft, positi-
fes Gutes wird an ihm beobachtet. Wie der Mahler, mit geübtem Auge tausend kleine Nüan-
cen und Farbenspielungen wahrnimmt, die hundert andern Augen unbemerkt bleiben, so der Phy-
siognomist eine Menge würklicher oder möglicher Trefflichkeiten, die tausend Augen gemeiner Men-
schenverachter, Menschenverläumder -- oder liebreicher Menschenbeurtheiler unbemerkbar sind.

Jch rede aus Erfahrung. Das Gute, das ich als Physiognomist an meinem Nebenmen-
schen bemerke, hält mich mehr als schadlos für die Menge Böses, das ich ebenfalls bemerken und

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der Menſchenkenntniß und Menſchenliebe.

Mithin — „daß Menſchenkenntniß der Menſchenliebe im Ganzen nichts ſchade,“ — „ob
„aber nuͤtzet?“ — Ja — „daß ſie ihr nuͤtzet!“ —

Menſchenkenntniß lehrt uns nicht nur, was der Menſch nicht iſt, — und nicht ſeyn
kann;
ſondern auch: warum er’s nicht iſt, und nicht ſeyn kann? ſondern auch: was er iſt und
ſeyn kann?

Befremdung — dieſe ſo reiche Quelle von Jntoleranz, nimmt in ebendemſelben Grade
ab, wie die aͤchte Menſchenkenntniß zunimmt.

Wenn du weißt, warum ein Menſch ſo denkt, ſo handelt — das heißt, wenn du dich in
ſeine Lage, wie viel mehr? wenn du dich in den Bau ſeines Koͤrpers, ſeine Bildung, ſeine Sin-
ne, ſein Temperament, ſeine Empfindſamkeit, hinein denken kannſt; wie wird dir alles begreiflich?
erklaͤrbar? natuͤrlich? — und hoͤrt denn nicht gerade da die Jntoleranz, die ſich bloß auf die Men-
ſchen, als Objekt, bezieht, auf — wo lichthelle Erkenntniß ſeiner individuellen Natur anfaͤngt?
wird da nicht viel eher Mitleiden an die Stelle der Verdammung, und bruͤderliche Nachſicht an
die Stelle des Haſſes treten? —

Jch will damit Fehlern nicht das Wort reden, viel weniger Laſter, als ſolche, in den Schutz
nehmen; aber es iſt allgemein angenommene richtige Billigkeit — daß man z. E. einem hitzigen
Menſchen eher vergeben koͤnne, wenn er ſich durch harte Beleidigungen zum Zorne reizen laͤßt, als
einem kaͤltern.

Allein nicht nur von dieſer Seite — (ich beruͤhre hier die Sache nur) gewinnt der Fehler-
hafte durch phyſiognomiſche Menſchenkenntniß anderer. Er gewinnt noch von einer andern.

Die Phyſiognomik entdeckt in ihm wuͤrkliche und moͤgliche Vollkommenheiten, die ohne ſie
immer verborgen bleiben koͤnnten. Je mehr der Menſch beobachtet wird, deſto mehr Kraft, poſiti-
fes Gutes wird an ihm beobachtet. Wie der Mahler, mit geuͤbtem Auge tauſend kleine Nuͤan-
cen und Farbenſpielungen wahrnimmt, die hundert andern Augen unbemerkt bleiben, ſo der Phy-
ſiognomiſt eine Menge wuͤrklicher oder moͤglicher Trefflichkeiten, die tauſend Augen gemeiner Men-
ſchenverachter, Menſchenverlaͤumder — oder liebreicher Menſchenbeurtheiler unbemerkbar ſind.

Jch rede aus Erfahrung. Das Gute, das ich als Phyſiognomiſt an meinem Nebenmen-
ſchen bemerke, haͤlt mich mehr als ſchadlos fuͤr die Menge Boͤſes, das ich ebenfalls bemerken und

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[37/0059] der Menſchenkenntniß und Menſchenliebe. Mithin — „daß Menſchenkenntniß der Menſchenliebe im Ganzen nichts ſchade,“ — „ob „aber nuͤtzet?“ — Ja — „daß ſie ihr nuͤtzet!“ — Menſchenkenntniß lehrt uns nicht nur, was der Menſch nicht iſt, — und nicht ſeyn kann; ſondern auch: warum er’s nicht iſt, und nicht ſeyn kann? ſondern auch: was er iſt und ſeyn kann? Befremdung — dieſe ſo reiche Quelle von Jntoleranz, nimmt in ebendemſelben Grade ab, wie die aͤchte Menſchenkenntniß zunimmt. Wenn du weißt, warum ein Menſch ſo denkt, ſo handelt — das heißt, wenn du dich in ſeine Lage, wie viel mehr? wenn du dich in den Bau ſeines Koͤrpers, ſeine Bildung, ſeine Sin- ne, ſein Temperament, ſeine Empfindſamkeit, hinein denken kannſt; wie wird dir alles begreiflich? erklaͤrbar? natuͤrlich? — und hoͤrt denn nicht gerade da die Jntoleranz, die ſich bloß auf die Men- ſchen, als Objekt, bezieht, auf — wo lichthelle Erkenntniß ſeiner individuellen Natur anfaͤngt? wird da nicht viel eher Mitleiden an die Stelle der Verdammung, und bruͤderliche Nachſicht an die Stelle des Haſſes treten? — Jch will damit Fehlern nicht das Wort reden, viel weniger Laſter, als ſolche, in den Schutz nehmen; aber es iſt allgemein angenommene richtige Billigkeit — daß man z. E. einem hitzigen Menſchen eher vergeben koͤnne, wenn er ſich durch harte Beleidigungen zum Zorne reizen laͤßt, als einem kaͤltern. Allein nicht nur von dieſer Seite — (ich beruͤhre hier die Sache nur) gewinnt der Fehler- hafte durch phyſiognomiſche Menſchenkenntniß anderer. Er gewinnt noch von einer andern. Die Phyſiognomik entdeckt in ihm wuͤrkliche und moͤgliche Vollkommenheiten, die ohne ſie immer verborgen bleiben koͤnnten. Je mehr der Menſch beobachtet wird, deſto mehr Kraft, poſiti- fes Gutes wird an ihm beobachtet. Wie der Mahler, mit geuͤbtem Auge tauſend kleine Nuͤan- cen und Farbenſpielungen wahrnimmt, die hundert andern Augen unbemerkt bleiben, ſo der Phy- ſiognomiſt eine Menge wuͤrklicher oder moͤglicher Trefflichkeiten, die tauſend Augen gemeiner Men- ſchenverachter, Menſchenverlaͤumder — oder liebreicher Menſchenbeurtheiler unbemerkbar ſind. Jch rede aus Erfahrung. Das Gute, das ich als Phyſiognomiſt an meinem Nebenmen- ſchen bemerke, haͤlt mich mehr als ſchadlos fuͤr die Menge Boͤſes, das ich ebenfalls bemerken und unter- E 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/59>, abgerufen am 23.11.2024.