Jm tiefen durchschauenden, ergreifenden, verwandelnden Blick -- in der Kraft der Au- genbraunen -- im Umrisse des Augknochens -- im eckigten Gränzumrisse des Gesichtes -- in der breiten knorpeligen Nase, in den unbeschreiblich sanften, feuerreichen, geistvollen Lippen -- -- Wer? wer sieht nicht diese Fülle von Feuer, elastischer Thätigkeit, gemeinnütziger Güte -- Genie voller Empfindsamkeit -- Peindrang des Genies?
"Insatiable, de voir & de connoitre par-tout, ou il passe, Descartes interroge la "verite. Il la demande a tous les lieux, qu'il parcourt. Il la poursuit de pais en pais. "Il avoit l'art de s'approprier tant d'idees acquises dans ses voyages, par des medita- "tions, qui dans Descartes s'etoient tournes en habitude. Elles le suivoient par tout; dans "les voyages, dans les camps, dans les occupations les plus tumultueuses. Il avoit "toujours un azile pret, ou son ame se retiroit au besoin. Cetoit la, qu'il appelloit ses "idees. Elles accouroient en foule. La meditation les faisoit naitre. L'esprit geome- "trique venoit les enchainer ..... Cetoit la, que son ame se reposoit de l'inquietude, "qui la tourmentoit partout ailleurs. Mais degoute bientot de speculations abstraites, le "desir de se rapprocher des hommes, le rentrainoit a l'etude de la nature. Il se livroit a "toutes les sciences."
Man verzeihe mir die Weitläuftigkeit dieser Stelle. Sie verdient hier Raum -- und sie ist zu unserm Zwecke wichtig. Selten findet sich dieses so auffallende Gemisch des geometrischen und des menschenfreundlich thätigen Geistes. Cartesius -- ist einer der abgezogensten, aber zugleich der thätigsten Denker. So sehnsüchtig nach Stille; so unvermögend, die Ruhe der Einsamkeit lange zu genießen -- so hochfliegend in Wirbeln von Welten -- so sich verlierend, hingebend in die gemeinnützigsten Geschäffte. Wie selten diese Seelen -- und wie offen dieses Gemische von Charakter in dem Gesichte des Cartesius! Es ist schwer, alles Einzelne heraus zu heben; aber nicht schwer, es im Ganzen zu bemerken. Jm Auge ist z. E. erstaunliche Leidenschaft und Unruhe; die höchste Thätigkeit in dieser Form der Nase. Die Entfernung der Augenbraunen von den Au- gen -- zeigt mehr fliegendes, als ruhig fortdringendes Genie. Der Mann kann nicht ruhig, nicht unthätig, nicht einsam seyn. So viel Jmagination bey so viel Verstand und so viel Kraft so sel-
ten
M m 2
Gelehrte, Denker.
Jm tiefen durchſchauenden, ergreifenden, verwandelnden Blick — in der Kraft der Au- genbraunen — im Umriſſe des Augknochens — im eckigten Graͤnzumriſſe des Geſichtes — in der breiten knorpeligen Naſe, in den unbeſchreiblich ſanften, feuerreichen, geiſtvollen Lippen — — Wer? wer ſieht nicht dieſe Fuͤlle von Feuer, elaſtiſcher Thaͤtigkeit, gemeinnuͤtziger Guͤte — Genie voller Empfindſamkeit — Peindrang des Genies?
„Inſatiable, de voir & de connoitre par-tout, où il paſſe, Deſcartes interroge la „verité. Il la demande à tous les lieux, qu’il parcourt. Il la pourſuit de païs en païs. „Il avoit l’art de s’approprier tant d’idées acquiſes dans ſes voyages, par des medita- „tions, qui dans Deſcartes s’étoient tournés en habitude. Elles le ſuivoient par tout; dans „les voyages, dans les camps, dans les occupations les plus tumultueuſes. Il avoit „toujours un azile prêt, ou ſon ame ſe retiroit au beſoin. Cétoit là, qu’il appelloit ſes „idées. Elles accouroient en foule. La meditation les faiſoit naitre. L’eſprit géomé- „trique venoit les enchainer ..... Cétoit la, que ſon ame ſe repoſoit de l’inquiétude, „qui la tourmentoit partout ailleurs. Mais dégouté bientot de ſpeculations abſtraites, le „deſir de ſe rapprocher des hommes, le rentrainoit à l’étude de la nature. Il ſe livroit à „toutes les ſciences.“
Man verzeihe mir die Weitlaͤuftigkeit dieſer Stelle. Sie verdient hier Raum — und ſie iſt zu unſerm Zwecke wichtig. Selten findet ſich dieſes ſo auffallende Gemiſch des geometriſchen und des menſchenfreundlich thaͤtigen Geiſtes. Carteſius — iſt einer der abgezogenſten, aber zugleich der thaͤtigſten Denker. So ſehnſuͤchtig nach Stille; ſo unvermoͤgend, die Ruhe der Einſamkeit lange zu genießen — ſo hochfliegend in Wirbeln von Welten — ſo ſich verlierend, hingebend in die gemeinnuͤtzigſten Geſchaͤffte. Wie ſelten dieſe Seelen — und wie offen dieſes Gemiſche von Charakter in dem Geſichte des Carteſius! Es iſt ſchwer, alles Einzelne heraus zu heben; aber nicht ſchwer, es im Ganzen zu bemerken. Jm Auge iſt z. E. erſtaunliche Leidenſchaft und Unruhe; die hoͤchſte Thaͤtigkeit in dieſer Form der Naſe. Die Entfernung der Augenbraunen von den Au- gen — zeigt mehr fliegendes, als ruhig fortdringendes Genie. Der Mann kann nicht ruhig, nicht unthaͤtig, nicht einſam ſeyn. So viel Jmagination bey ſo viel Verſtand und ſo viel Kraft ſo ſel-
ten
M m 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0487"n="275"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Gelehrte, Denker.</hi></fw><lb/><p>Jm tiefen durchſchauenden, ergreifenden, verwandelnden Blick — in der Kraft der Au-<lb/>
genbraunen — im Umriſſe des Augknochens — im eckigten Graͤnzumriſſe des Geſichtes — in der<lb/>
breiten knorpeligen Naſe, in den unbeſchreiblich ſanften, feuerreichen, geiſtvollen Lippen ——<lb/>
Wer? wer ſieht nicht dieſe Fuͤlle von Feuer, elaſtiſcher Thaͤtigkeit, gemeinnuͤtziger Guͤte — Genie<lb/>
voller Empfindſamkeit — Peindrang des Genies?</p><lb/><p><hirendition="#aq">„Inſatiable, de voir & de connoitre par-tout, où il paſſe, <hirendition="#i">Deſcartes</hi> interroge la<lb/>„verité. Il la demande à tous les lieux, qu’il parcourt. Il la pourſuit de <hirendition="#i">païs</hi> en <hirendition="#i">païs.</hi><lb/>„Il avoit l’art de s’approprier tant d’idées acquiſes dans ſes voyages, par des medita-<lb/>„tions, qui dans <hirendition="#i">Deſcartes</hi> s’étoient tournés en habitude. Elles le ſuivoient par tout; dans<lb/>„les voyages, dans les camps, dans les occupations les plus tumultueuſes. Il avoit<lb/>„toujours un azile prêt, ou ſon ame ſe retiroit au beſoin. Cétoit là, qu’il appelloit ſes<lb/>„idées. Elles accouroient en foule. La meditation les faiſoit naitre. L’eſprit géomé-<lb/>„trique venoit les enchainer ..... Cétoit la, que ſon ame ſe repoſoit de l’inquiétude,<lb/>„qui la tourmentoit partout ailleurs. Mais dégouté bientot de ſpeculations abſtraites, le<lb/>„deſir de ſe rapprocher des hommes, le rentrainoit à l’étude de la nature. Il ſe livroit à<lb/>„toutes les ſciences.“</hi></p><lb/><p>Man verzeihe mir die Weitlaͤuftigkeit dieſer Stelle. Sie verdient hier Raum — und ſie<lb/>
iſt zu unſerm Zwecke wichtig. Selten findet ſich dieſes ſo auffallende Gemiſch des geometriſchen und<lb/>
des menſchenfreundlich thaͤtigen Geiſtes. <hirendition="#fr">Carteſius</hi>— iſt einer der abgezogenſten, aber zugleich<lb/>
der thaͤtigſten Denker. So ſehnſuͤchtig nach Stille; ſo unvermoͤgend, die Ruhe der Einſamkeit<lb/>
lange zu genießen —ſo hochfliegend in Wirbeln von Welten —ſo ſich verlierend, hingebend in<lb/>
die gemeinnuͤtzigſten Geſchaͤffte. Wie ſelten dieſe Seelen — und wie offen dieſes Gemiſche von<lb/>
Charakter in dem Geſichte des <hirendition="#fr">Carteſius!</hi> Es iſt ſchwer, alles Einzelne heraus zu heben; aber<lb/>
nicht ſchwer, es im Ganzen zu bemerken. Jm Auge iſt z. E. erſtaunliche Leidenſchaft und Unruhe;<lb/>
die hoͤchſte Thaͤtigkeit in dieſer Form der Naſe. Die Entfernung der Augenbraunen von den Au-<lb/>
gen — zeigt mehr fliegendes, als ruhig fortdringendes Genie. Der Mann kann nicht ruhig, nicht<lb/>
unthaͤtig, nicht einſam ſeyn. So viel Jmagination bey ſo viel Verſtand und ſo viel Kraft ſo ſel-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">M m 2</fw><fwplace="bottom"type="catch">ten</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[275/0487]
Gelehrte, Denker.
Jm tiefen durchſchauenden, ergreifenden, verwandelnden Blick — in der Kraft der Au-
genbraunen — im Umriſſe des Augknochens — im eckigten Graͤnzumriſſe des Geſichtes — in der
breiten knorpeligen Naſe, in den unbeſchreiblich ſanften, feuerreichen, geiſtvollen Lippen — —
Wer? wer ſieht nicht dieſe Fuͤlle von Feuer, elaſtiſcher Thaͤtigkeit, gemeinnuͤtziger Guͤte — Genie
voller Empfindſamkeit — Peindrang des Genies?
„Inſatiable, de voir & de connoitre par-tout, où il paſſe, Deſcartes interroge la
„verité. Il la demande à tous les lieux, qu’il parcourt. Il la pourſuit de païs en païs.
„Il avoit l’art de s’approprier tant d’idées acquiſes dans ſes voyages, par des medita-
„tions, qui dans Deſcartes s’étoient tournés en habitude. Elles le ſuivoient par tout; dans
„les voyages, dans les camps, dans les occupations les plus tumultueuſes. Il avoit
„toujours un azile prêt, ou ſon ame ſe retiroit au beſoin. Cétoit là, qu’il appelloit ſes
„idées. Elles accouroient en foule. La meditation les faiſoit naitre. L’eſprit géomé-
„trique venoit les enchainer ..... Cétoit la, que ſon ame ſe repoſoit de l’inquiétude,
„qui la tourmentoit partout ailleurs. Mais dégouté bientot de ſpeculations abſtraites, le
„deſir de ſe rapprocher des hommes, le rentrainoit à l’étude de la nature. Il ſe livroit à
„toutes les ſciences.“
Man verzeihe mir die Weitlaͤuftigkeit dieſer Stelle. Sie verdient hier Raum — und ſie
iſt zu unſerm Zwecke wichtig. Selten findet ſich dieſes ſo auffallende Gemiſch des geometriſchen und
des menſchenfreundlich thaͤtigen Geiſtes. Carteſius — iſt einer der abgezogenſten, aber zugleich
der thaͤtigſten Denker. So ſehnſuͤchtig nach Stille; ſo unvermoͤgend, die Ruhe der Einſamkeit
lange zu genießen — ſo hochfliegend in Wirbeln von Welten — ſo ſich verlierend, hingebend in
die gemeinnuͤtzigſten Geſchaͤffte. Wie ſelten dieſe Seelen — und wie offen dieſes Gemiſche von
Charakter in dem Geſichte des Carteſius! Es iſt ſchwer, alles Einzelne heraus zu heben; aber
nicht ſchwer, es im Ganzen zu bemerken. Jm Auge iſt z. E. erſtaunliche Leidenſchaft und Unruhe;
die hoͤchſte Thaͤtigkeit in dieſer Form der Naſe. Die Entfernung der Augenbraunen von den Au-
gen — zeigt mehr fliegendes, als ruhig fortdringendes Genie. Der Mann kann nicht ruhig, nicht
unthaͤtig, nicht einſam ſeyn. So viel Jmagination bey ſo viel Verſtand und ſo viel Kraft ſo ſel-
ten
M m 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/487>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.