1) Ruhige Stille eines alten Löwen, der lange Zeit seiner Freyheit beraubt gewesen.
2) Nicht zu nahe dieser mütterlichen Liebe -- sie ist grausam. Jhren Tod achtet diese Bestie nicht, aber das Leben ihrer Brut, und wehe sieben gerüsteten Reutern, die sie anfallen wollen! Diese hier hat Wind von Nachstellung. Jhr Auge drohet Tod, und ihre Zähne zerreis- sende Wuth. Jhre Stellung -- Bereitschaft -- aufzufahren und zu zerreissen. -- Wie diese klei- nen schon den Charakter der Mutter mit der Muttermilch eingesogen! Grausamkeit, Wildheit, Frechheit, wie sie sich sträuben in Zuversicht auf ihre Mutter! -- Furchtbare Familie!
Bemerket übrigens die Profilumrisse dieser Thiere -- wie leicht ließen sie sich vermenschli- chen, ohne den Hauptcharakter, der ihnen aufgedrückt ist, zu verlieren.
Welche gelenksame Stärke ist im gähnenden Löwen sichtbar!
Dritte Tafel.
Ein alter abgelebter Löwe, gewohnt, seine gehemmte Freyheit zu ertragen. Sein Profil ist phy- siognomisch merkwürdig; besonders der Gränzumriß von Stirn und Nase, und wie sich diese Gränzlinie fast in einen rechten Winkel zurückbeugt von der Nase bis zum Unterkiefer. Noch deut- licher sieht man's an dem schönen Profile des großen halbliegenden Löwen auf derselben Tafel. Ein Mensch mit diesem Stirn- und Nasenprofile, vom linken Ohre des Löwen an gerechnet, würde sicherlich kein gemeiner Mensch seyn, obgleich ich in dieser Geradheit noch kein Menschenprofil gese- hen; -- die Nase des Löwen ist freylich bey weitem nicht so hervorspringend, wie die des Men- schen, aber doch hervorspringender, als bey allen andern vierfüßigen Thieren. Sichtbarer Aus- druck thierköniglicher Stärke und stolzer Anmaßung ist -- theils dieser Bogen der Nase, theils
ihre
XXXIII. Fragment. Wilde Thiere.
Zweyte Tafel. Loͤwen.
1) Ruhige Stille eines alten Loͤwen, der lange Zeit ſeiner Freyheit beraubt geweſen.
2) Nicht zu nahe dieſer muͤtterlichen Liebe — ſie iſt grauſam. Jhren Tod achtet dieſe Beſtie nicht, aber das Leben ihrer Brut, und wehe ſieben geruͤſteten Reutern, die ſie anfallen wollen! Dieſe hier hat Wind von Nachſtellung. Jhr Auge drohet Tod, und ihre Zaͤhne zerreiſ- ſende Wuth. Jhre Stellung — Bereitſchaft — aufzufahren und zu zerreiſſen. — Wie dieſe klei- nen ſchon den Charakter der Mutter mit der Muttermilch eingeſogen! Grauſamkeit, Wildheit, Frechheit, wie ſie ſich ſtraͤuben in Zuverſicht auf ihre Mutter! — Furchtbare Familie!
Bemerket uͤbrigens die Profilumriſſe dieſer Thiere — wie leicht ließen ſie ſich vermenſchli- chen, ohne den Hauptcharakter, der ihnen aufgedruͤckt iſt, zu verlieren.
Welche gelenkſame Staͤrke iſt im gaͤhnenden Loͤwen ſichtbar!
Dritte Tafel.
Ein alter abgelebter Loͤwe, gewohnt, ſeine gehemmte Freyheit zu ertragen. Sein Profil iſt phy- ſiognomiſch merkwuͤrdig; beſonders der Graͤnzumriß von Stirn und Naſe, und wie ſich dieſe Graͤnzlinie faſt in einen rechten Winkel zuruͤckbeugt von der Naſe bis zum Unterkiefer. Noch deut- licher ſieht man’s an dem ſchoͤnen Profile des großen halbliegenden Loͤwen auf derſelben Tafel. Ein Menſch mit dieſem Stirn- und Naſenprofile, vom linken Ohre des Loͤwen an gerechnet, wuͤrde ſicherlich kein gemeiner Menſch ſeyn, obgleich ich in dieſer Geradheit noch kein Menſchenprofil geſe- hen; — die Naſe des Loͤwen iſt freylich bey weitem nicht ſo hervorſpringend, wie die des Men- ſchen, aber doch hervorſpringender, als bey allen andern vierfuͤßigen Thieren. Sichtbarer Aus- druck thierkoͤniglicher Staͤrke und ſtolzer Anmaßung iſt — theils dieſer Bogen der Naſe, theils
ihre
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XXXIII. Fragment. Wilde Thiere.
Zweyte Tafel.
Loͤwen.
1) Ruhige Stille eines alten Loͤwen, der lange Zeit ſeiner Freyheit beraubt geweſen.
2) Nicht zu nahe dieſer muͤtterlichen Liebe — ſie iſt grauſam. Jhren Tod achtet dieſe
Beſtie nicht, aber das Leben ihrer Brut, und wehe ſieben geruͤſteten Reutern, die ſie anfallen
wollen! Dieſe hier hat Wind von Nachſtellung. Jhr Auge drohet Tod, und ihre Zaͤhne zerreiſ-
ſende Wuth. Jhre Stellung — Bereitſchaft — aufzufahren und zu zerreiſſen. — Wie dieſe klei-
nen ſchon den Charakter der Mutter mit der Muttermilch eingeſogen! Grauſamkeit, Wildheit,
Frechheit, wie ſie ſich ſtraͤuben in Zuverſicht auf ihre Mutter! — Furchtbare Familie!
Bemerket uͤbrigens die Profilumriſſe dieſer Thiere — wie leicht ließen ſie ſich vermenſchli-
chen, ohne den Hauptcharakter, der ihnen aufgedruͤckt iſt, zu verlieren.
Welche gelenkſame Staͤrke iſt im gaͤhnenden Loͤwen ſichtbar!
Dritte Tafel.
Ein alter abgelebter Loͤwe, gewohnt, ſeine gehemmte Freyheit zu ertragen. Sein Profil iſt phy-
ſiognomiſch merkwuͤrdig; beſonders der Graͤnzumriß von Stirn und Naſe, und wie ſich dieſe
Graͤnzlinie faſt in einen rechten Winkel zuruͤckbeugt von der Naſe bis zum Unterkiefer. Noch deut-
licher ſieht man’s an dem ſchoͤnen Profile des großen halbliegenden Loͤwen auf derſelben Tafel.
Ein Menſch mit dieſem Stirn- und Naſenprofile, vom linken Ohre des Loͤwen an gerechnet, wuͤrde
ſicherlich kein gemeiner Menſch ſeyn, obgleich ich in dieſer Geradheit noch kein Menſchenprofil geſe-
hen; — die Naſe des Loͤwen iſt freylich bey weitem nicht ſo hervorſpringend, wie die des Men-
ſchen, aber doch hervorſpringender, als bey allen andern vierfuͤßigen Thieren. Sichtbarer Aus-
druck thierkoͤniglicher Staͤrke und ſtolzer Anmaßung iſt — theils dieſer Bogen der Naſe, theils
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/454>, abgerufen am 23.02.2025.
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