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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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XXX. Fragment.

Die Gesichtsfarbe, sie ist nicht die blasse des alles erschaffenden und alles verzehrenden
Genius; nicht die wildglühende des verachtenden Zertreters; nicht die milchweiße des blöden, nicht
die gelbe des harten und zähen; nicht die bräunliche des langsam fleißigen Arbeiters; aber die
weißröthlichte, violette, so sprechend und so unter einander wallend, so glücklich gemischt, wie
die Stärke und Schwäche des ganzen Charakters. -- Die Seele des Ganzen und eines jeden
besondern Zuges ist Freyheit, ist elastische Betriebsamkeit, die leicht fortstößt, und leicht zurück-
gestoßen wird. Großmuth und aufrichtige Heiterkeit leuchten aus dem ganzen Vordergesichte
und der Stellung des Kopfes. Unverderblichkeit der Empfindung, Feinheit des Geschmacks,
Reinheit des Geistes, Güte und Adel der Seele, betriebsame Kraft, Gefühl von Kraft und
Schwäche, scheinen so allzudurchdringend im ganzen Gesichte durch, daß das sonst muthige
Selbstgefühl sich dadurch in edle Bescheidenheit auflößt, und der natürliche Stolz und die Jüng-
lingseitelkeit sich ohne Zwang und Kunst in diesem herrlich spielenden All liebenswürdig ver-
dämmert. -- Das weißliche Haar, die Länge und Unbehaglichkeit der Gestalt, die sanfte Leich-
tigkeit des Auftritts, das Hin- und Herschweben des Ganges, die Fläche der Brust, die weiße
faltenlose Stirn, und noch verschiedene andere Ausdrücke verbreiten über den ganzen Menschen
eine gewisse Weiblichkeit, wodurch die innere Schnellkraft gemäßigt, und dem Herzen jede vor-
sätzliche Beleidigung und Niederträchtigkeit ewig unmöglich gemacht, zugleich aber auch offenbar
wird, daß der muth- und feuervolle Poet, mit allem seinem unaffektirten Durste nach Freyheit
und Befreyung, nicht bestimmt ist, für sich allein ein fester, Plan durchsetzender, ausharrender
Geschäfftsmann, oder in der blutigen Schlacht unsterblich zu werden. Und nun erst am Ende
merk' ich, daß ich von dem Auffallendsten noch nichts gesagt; nichts von der edlen, von aller
Affektation reinen Simplicität! Nichts von der Kindheit des Herzens! Nichts von dem gänzli-
chen Nichtgefühle seines äusserlichen Adels! Nichts von der unaussprechlichen Bonhomie, mit
welcher er Warnung und Tadel, sogar Vorwürfe und Unrecht, annimmt und duldet. --

Doch, wer will ein Ende finden, von einem guten Menschen, in dem so viel reine Mensch-
heit ist, alles zu sagen, was an ihm wahrgenommen oder empfunden wird!

Wir
XXX. Fragment.

Die Geſichtsfarbe, ſie iſt nicht die blaſſe des alles erſchaffenden und alles verzehrenden
Genius; nicht die wildgluͤhende des verachtenden Zertreters; nicht die milchweiße des bloͤden, nicht
die gelbe des harten und zaͤhen; nicht die braͤunliche des langſam fleißigen Arbeiters; aber die
weißroͤthlichte, violette, ſo ſprechend und ſo unter einander wallend, ſo gluͤcklich gemiſcht, wie
die Staͤrke und Schwaͤche des ganzen Charakters. — Die Seele des Ganzen und eines jeden
beſondern Zuges iſt Freyheit, iſt elaſtiſche Betriebſamkeit, die leicht fortſtoͤßt, und leicht zuruͤck-
geſtoßen wird. Großmuth und aufrichtige Heiterkeit leuchten aus dem ganzen Vordergeſichte
und der Stellung des Kopfes. Unverderblichkeit der Empfindung, Feinheit des Geſchmacks,
Reinheit des Geiſtes, Guͤte und Adel der Seele, betriebſame Kraft, Gefuͤhl von Kraft und
Schwaͤche, ſcheinen ſo allzudurchdringend im ganzen Geſichte durch, daß das ſonſt muthige
Selbſtgefuͤhl ſich dadurch in edle Beſcheidenheit aufloͤßt, und der natuͤrliche Stolz und die Juͤng-
lingseitelkeit ſich ohne Zwang und Kunſt in dieſem herrlich ſpielenden All liebenswuͤrdig ver-
daͤmmert. — Das weißliche Haar, die Laͤnge und Unbehaglichkeit der Geſtalt, die ſanfte Leich-
tigkeit des Auftritts, das Hin- und Herſchweben des Ganges, die Flaͤche der Bruſt, die weiße
faltenloſe Stirn, und noch verſchiedene andere Ausdruͤcke verbreiten uͤber den ganzen Menſchen
eine gewiſſe Weiblichkeit, wodurch die innere Schnellkraft gemaͤßigt, und dem Herzen jede vor-
ſaͤtzliche Beleidigung und Niedertraͤchtigkeit ewig unmoͤglich gemacht, zugleich aber auch offenbar
wird, daß der muth- und feuervolle Poet, mit allem ſeinem unaffektirten Durſte nach Freyheit
und Befreyung, nicht beſtimmt iſt, fuͤr ſich allein ein feſter, Plan durchſetzender, ausharrender
Geſchaͤfftsmann, oder in der blutigen Schlacht unſterblich zu werden. Und nun erſt am Ende
merk’ ich, daß ich von dem Auffallendſten noch nichts geſagt; nichts von der edlen, von aller
Affektation reinen Simplicitaͤt! Nichts von der Kindheit des Herzens! Nichts von dem gaͤnzli-
chen Nichtgefuͤhle ſeines aͤuſſerlichen Adels! Nichts von der unausſprechlichen Bonhomie, mit
welcher er Warnung und Tadel, ſogar Vorwuͤrfe und Unrecht, annimmt und duldet. —

Doch, wer will ein Ende finden, von einem guten Menſchen, in dem ſo viel reine Menſch-
heit iſt, alles zu ſagen, was an ihm wahrgenommen oder empfunden wird!

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[246/0420] XXX. Fragment. Die Geſichtsfarbe, ſie iſt nicht die blaſſe des alles erſchaffenden und alles verzehrenden Genius; nicht die wildgluͤhende des verachtenden Zertreters; nicht die milchweiße des bloͤden, nicht die gelbe des harten und zaͤhen; nicht die braͤunliche des langſam fleißigen Arbeiters; aber die weißroͤthlichte, violette, ſo ſprechend und ſo unter einander wallend, ſo gluͤcklich gemiſcht, wie die Staͤrke und Schwaͤche des ganzen Charakters. — Die Seele des Ganzen und eines jeden beſondern Zuges iſt Freyheit, iſt elaſtiſche Betriebſamkeit, die leicht fortſtoͤßt, und leicht zuruͤck- geſtoßen wird. Großmuth und aufrichtige Heiterkeit leuchten aus dem ganzen Vordergeſichte und der Stellung des Kopfes. Unverderblichkeit der Empfindung, Feinheit des Geſchmacks, Reinheit des Geiſtes, Guͤte und Adel der Seele, betriebſame Kraft, Gefuͤhl von Kraft und Schwaͤche, ſcheinen ſo allzudurchdringend im ganzen Geſichte durch, daß das ſonſt muthige Selbſtgefuͤhl ſich dadurch in edle Beſcheidenheit aufloͤßt, und der natuͤrliche Stolz und die Juͤng- lingseitelkeit ſich ohne Zwang und Kunſt in dieſem herrlich ſpielenden All liebenswuͤrdig ver- daͤmmert. — Das weißliche Haar, die Laͤnge und Unbehaglichkeit der Geſtalt, die ſanfte Leich- tigkeit des Auftritts, das Hin- und Herſchweben des Ganges, die Flaͤche der Bruſt, die weiße faltenloſe Stirn, und noch verſchiedene andere Ausdruͤcke verbreiten uͤber den ganzen Menſchen eine gewiſſe Weiblichkeit, wodurch die innere Schnellkraft gemaͤßigt, und dem Herzen jede vor- ſaͤtzliche Beleidigung und Niedertraͤchtigkeit ewig unmoͤglich gemacht, zugleich aber auch offenbar wird, daß der muth- und feuervolle Poet, mit allem ſeinem unaffektirten Durſte nach Freyheit und Befreyung, nicht beſtimmt iſt, fuͤr ſich allein ein feſter, Plan durchſetzender, ausharrender Geſchaͤfftsmann, oder in der blutigen Schlacht unſterblich zu werden. Und nun erſt am Ende merk’ ich, daß ich von dem Auffallendſten noch nichts geſagt; nichts von der edlen, von aller Affektation reinen Simplicitaͤt! Nichts von der Kindheit des Herzens! Nichts von dem gaͤnzli- chen Nichtgefuͤhle ſeines aͤuſſerlichen Adels! Nichts von der unausſprechlichen Bonhomie, mit welcher er Warnung und Tadel, ſogar Vorwuͤrfe und Unrecht, annimmt und duldet. — Doch, wer will ein Ende finden, von einem guten Menſchen, in dem ſo viel reine Menſch- heit iſt, alles zu ſagen, was an ihm wahrgenommen oder empfunden wird! Wir

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/420>, abgerufen am 22.11.2024.