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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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XXX. Fragment.
Sechste Tafel. P. ... t. Güte mit gehaltner Kraft.

Jedes Gesicht, das dem Mahler herhält, wird matt und steif. Daher -- fast kein wahres Por-
trät in der Welt; -- wenigstens kaum Eins auf dem Kupfer. Keine Gesichter aber verlieren da-
durch gemeiniglich in der Zeichnung mehr, als die, die aus unscharfen Umrissen bestehen. Nur ein
wenig minder Aktivität, nur ein wenig mehr Schlaffheit, -- und der Mahler, der die harten Ge-
sichter gemeiniglich härter, die ohne das etwas schlaffen oder stumpfen noch um etwas schlaffer oder
stumpfer zu machen pflegt -- wird Euch, auch wenn er ein sehr kenntliches Porträt liefert, ein
seelenloses liefern. Ein Beyspiel das Gesicht, das wir vor uns haben.

Beynah' alles etwas mehr abgerundet, als in der Natur, und alles dadurch matter und
kraftloser. -- Aber auch in dieser Kraftlosigkeit immer noch ein ausgezeichnetes Gesicht, von einem
der treusten, männlichsten, festesten, und zugleich zärtlichsten, edelsten Charakter.

Die ganz ungewöhnlich zurückgehende Stirn mit dieser Höhlung des Nasenumrisses --
wir kennen den Charakter dieses Zuges schon -- wir finden ihn bey keinem gemeinen Menschen.

Der Blick ist staunend; das Auge, besonders nach dem Umrisse des obern und untern Au-
genlieds betrachtet, ist nicht des spekulatifen Genies, aber des sinnlich richtigen, gesunden, schnellen
Beobachters.

Die Nase ist am meisten verfehlt, und der Umriß von der Nasenspitze bis zur Oberlippe
ist zu sehr eingekerbt, da sonst der übrige Umriß zu rund ist, welches dem geübtern physiognomischen
Auge unerträglich ist. --

Das ganze Gesicht macht den Eindruck eines festen, entschlossenen, klugen Mannes, der
auf sich selber stehen kann -- Dieß drückt sich zum Theil auch in dem Einschnitte über dem Kinn-
ball aus, der in der Natur noch tiefer und schärfer zu seyn scheint.

Noch bemerken wir das sonderbare, herabgehende, anklebende Ohrläppchen -- worüber ich
freylich noch nichts zuverlässiges zu sagen weiß.

Siebente Tafel. I. L. P.

Dasselbe Gesicht mit beyden Augen. Viel bestimmter, genauer und fester gezeichnet; aber in einer
Stunde, wo der Treue, Zärtlichliebende sich von liebenden Geliebten losreissen mußte; wo er mit
gehaltner Stärke seine Gedanken im Zaume, und seine Thränen zurückzuhalten, sich anstrengen, sich

versteinern
XXX. Fragment.
Sechste Tafel. P. ... t. Guͤte mit gehaltner Kraft.

Jedes Geſicht, das dem Mahler herhaͤlt, wird matt und ſteif. Daher — faſt kein wahres Por-
traͤt in der Welt; — wenigſtens kaum Eins auf dem Kupfer. Keine Geſichter aber verlieren da-
durch gemeiniglich in der Zeichnung mehr, als die, die aus unſcharfen Umriſſen beſtehen. Nur ein
wenig minder Aktivitaͤt, nur ein wenig mehr Schlaffheit, — und der Mahler, der die harten Ge-
ſichter gemeiniglich haͤrter, die ohne das etwas ſchlaffen oder ſtumpfen noch um etwas ſchlaffer oder
ſtumpfer zu machen pflegt — wird Euch, auch wenn er ein ſehr kenntliches Portraͤt liefert, ein
ſeelenloſes liefern. Ein Beyſpiel das Geſicht, das wir vor uns haben.

Beynah’ alles etwas mehr abgerundet, als in der Natur, und alles dadurch matter und
kraftloſer. — Aber auch in dieſer Kraftloſigkeit immer noch ein ausgezeichnetes Geſicht, von einem
der treuſten, maͤnnlichſten, feſteſten, und zugleich zaͤrtlichſten, edelſten Charakter.

Die ganz ungewoͤhnlich zuruͤckgehende Stirn mit dieſer Hoͤhlung des Naſenumriſſes —
wir kennen den Charakter dieſes Zuges ſchon — wir finden ihn bey keinem gemeinen Menſchen.

Der Blick iſt ſtaunend; das Auge, beſonders nach dem Umriſſe des obern und untern Au-
genlieds betrachtet, iſt nicht des ſpekulatifen Genies, aber des ſinnlich richtigen, geſunden, ſchnellen
Beobachters.

Die Naſe iſt am meiſten verfehlt, und der Umriß von der Naſenſpitze bis zur Oberlippe
iſt zu ſehr eingekerbt, da ſonſt der uͤbrige Umriß zu rund iſt, welches dem geuͤbtern phyſiognomiſchen
Auge unertraͤglich iſt. —

Das ganze Geſicht macht den Eindruck eines feſten, entſchloſſenen, klugen Mannes, der
auf ſich ſelber ſtehen kann — Dieß druͤckt ſich zum Theil auch in dem Einſchnitte uͤber dem Kinn-
ball aus, der in der Natur noch tiefer und ſchaͤrfer zu ſeyn ſcheint.

Noch bemerken wir das ſonderbare, herabgehende, anklebende Ohrlaͤppchen — woruͤber ich
freylich noch nichts zuverlaͤſſiges zu ſagen weiß.

Siebente Tafel. I. L. P.

Daſſelbe Geſicht mit beyden Augen. Viel beſtimmter, genauer und feſter gezeichnet; aber in einer
Stunde, wo der Treue, Zaͤrtlichliebende ſich von liebenden Geliebten losreiſſen mußte; wo er mit
gehaltner Staͤrke ſeine Gedanken im Zaume, und ſeine Thraͤnen zuruͤckzuhalten, ſich anſtrengen, ſich

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[242/0408] XXX. Fragment. Sechste Tafel. P. ... t. Guͤte mit gehaltner Kraft. Jedes Geſicht, das dem Mahler herhaͤlt, wird matt und ſteif. Daher — faſt kein wahres Por- traͤt in der Welt; — wenigſtens kaum Eins auf dem Kupfer. Keine Geſichter aber verlieren da- durch gemeiniglich in der Zeichnung mehr, als die, die aus unſcharfen Umriſſen beſtehen. Nur ein wenig minder Aktivitaͤt, nur ein wenig mehr Schlaffheit, — und der Mahler, der die harten Ge- ſichter gemeiniglich haͤrter, die ohne das etwas ſchlaffen oder ſtumpfen noch um etwas ſchlaffer oder ſtumpfer zu machen pflegt — wird Euch, auch wenn er ein ſehr kenntliches Portraͤt liefert, ein ſeelenloſes liefern. Ein Beyſpiel das Geſicht, das wir vor uns haben. Beynah’ alles etwas mehr abgerundet, als in der Natur, und alles dadurch matter und kraftloſer. — Aber auch in dieſer Kraftloſigkeit immer noch ein ausgezeichnetes Geſicht, von einem der treuſten, maͤnnlichſten, feſteſten, und zugleich zaͤrtlichſten, edelſten Charakter. Die ganz ungewoͤhnlich zuruͤckgehende Stirn mit dieſer Hoͤhlung des Naſenumriſſes — wir kennen den Charakter dieſes Zuges ſchon — wir finden ihn bey keinem gemeinen Menſchen. Der Blick iſt ſtaunend; das Auge, beſonders nach dem Umriſſe des obern und untern Au- genlieds betrachtet, iſt nicht des ſpekulatifen Genies, aber des ſinnlich richtigen, geſunden, ſchnellen Beobachters. Die Naſe iſt am meiſten verfehlt, und der Umriß von der Naſenſpitze bis zur Oberlippe iſt zu ſehr eingekerbt, da ſonſt der uͤbrige Umriß zu rund iſt, welches dem geuͤbtern phyſiognomiſchen Auge unertraͤglich iſt. — Das ganze Geſicht macht den Eindruck eines feſten, entſchloſſenen, klugen Mannes, der auf ſich ſelber ſtehen kann — Dieß druͤckt ſich zum Theil auch in dem Einſchnitte uͤber dem Kinn- ball aus, der in der Natur noch tiefer und ſchaͤrfer zu ſeyn ſcheint. Noch bemerken wir das ſonderbare, herabgehende, anklebende Ohrlaͤppchen — woruͤber ich freylich noch nichts zuverlaͤſſiges zu ſagen weiß. Siebente Tafel. I. L. P. Daſſelbe Geſicht mit beyden Augen. Viel beſtimmter, genauer und feſter gezeichnet; aber in einer Stunde, wo der Treue, Zaͤrtlichliebende ſich von liebenden Geliebten losreiſſen mußte; wo er mit gehaltner Staͤrke ſeine Gedanken im Zaume, und ſeine Thraͤnen zuruͤckzuhalten, ſich anſtrengen, ſich verſteinern

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/408>, abgerufen am 17.11.2024.