Sechs und zwanzigstes Fragment. Treue, feste Charakter von Leuten gemeiner Extraktion.
Von der niedrigsten Stufe der Geisteskraft treuer, redlicher Charakter bis zur höchsten führ' ich hier einige vor.
I. Ein Zürcherscher Landmann. ZB.
Erst ein Wort von der Zeichnung.
Cölla, mit dem Pinsel; Lips -- mit der Nadel; Pfenninger mit dem Bleystifte, dem Pinsel und der Nadel -- was können die, wenn sie Fleiß aufwenden, im Porträte liefern? -- wenigstens in der gemeinen Natur. --
Und die gemeine Natur -- O wie möcht' ich diese immer hervorziehen! diese beleuch- ten! dich Menschenfreund, dich, entzückter Schweber in idealischen Regionen -- sanft an der Hand zurückführen in das Reich der gemeinsten, alltäglichsten Menschennatur; nicht, dich da allein zu heften; nicht -- dich dahin zu verbannen, und dir jeden Ausflug in höhere unirdischere Gegenden zu verbieten -- o nein, Bruder! die Thüre und Aussicht dahin soll dir immer offen stehen; -- Salz des menschenfreundlichen Lebens sollen sie dir seyn, die höhern, reinern Jdeale -- aber nicht Speise! So wie's des erhabensten Jdeals -- Speise war, im Namen des Vaters aller auf -- die gemeinsten Menschen zu würken.
Ein gemeiners, ich sage nicht: ein schlechteres -- ein gemeiners Gesicht -- kann wohl kaum seyn, als das Z. B. -- Ein Mann -- wie mich däucht, ohn' alle Prätension; der zufrieden, sorglos dem Mahler seinen Kopf hergiebt, sitzt, wie er ihn sitzen heißt; und in die weite Welt hin- ausstaunt; nicht dumm, nicht Belehrung unfähig; nicht leicht verführbar; so -- wie er da er- scheint, gerade, treu und redlich; ein Gesicht, das, so gemein es in gewisser Absicht ist, wie jedes Menschengesicht, auch das gemeinste, immer mehr gewinnt, je mehr man's anschaut. -- Wenn Augen, Nasen und Mund, wie's seyn sollte, aber in zehentausend Porträten nicht ist, im Effekte so stark aus dem Gesichte sich auszeichneten, wie in der Natur, man würde sehen, wie dieß Gesicht
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Sechs und zwanzigſtes Fragment. Treue, feſte Charakter von Leuten gemeiner Extraktion.
Von der niedrigſten Stufe der Geiſteskraft treuer, redlicher Charakter bis zur hoͤchſten fuͤhr’ ich hier einige vor.
I. Ein Zuͤrcherſcher Landmann. ZB.
Erſt ein Wort von der Zeichnung.
Coͤlla, mit dem Pinſel; Lips — mit der Nadel; Pfenninger mit dem Bleyſtifte, dem Pinſel und der Nadel — was koͤnnen die, wenn ſie Fleiß aufwenden, im Portraͤte liefern? — wenigſtens in der gemeinen Natur. —
Und die gemeine Natur — O wie moͤcht’ ich dieſe immer hervorziehen! dieſe beleuch- ten! dich Menſchenfreund, dich, entzuͤckter Schweber in idealiſchen Regionen — ſanft an der Hand zuruͤckfuͤhren in das Reich der gemeinſten, alltaͤglichſten Menſchennatur; nicht, dich da allein zu heften; nicht — dich dahin zu verbannen, und dir jeden Ausflug in hoͤhere unirdiſchere Gegenden zu verbieten — o nein, Bruder! die Thuͤre und Ausſicht dahin ſoll dir immer offen ſtehen; — Salz des menſchenfreundlichen Lebens ſollen ſie dir ſeyn, die hoͤhern, reinern Jdeale — aber nicht Speiſe! So wie’s des erhabenſten Jdeals — Speiſe war, im Namen des Vaters aller auf — die gemeinſten Menſchen zu wuͤrken.
Ein gemeiners, ich ſage nicht: ein ſchlechteres — ein gemeiners Geſicht — kann wohl kaum ſeyn, als das Z. B. — Ein Mann — wie mich daͤucht, ohn’ alle Praͤtenſion; der zufrieden, ſorglos dem Mahler ſeinen Kopf hergiebt, ſitzt, wie er ihn ſitzen heißt; und in die weite Welt hin- ausſtaunt; nicht dumm, nicht Belehrung unfaͤhig; nicht leicht verfuͤhrbar; ſo — wie er da er- ſcheint, gerade, treu und redlich; ein Geſicht, das, ſo gemein es in gewiſſer Abſicht iſt, wie jedes Menſchengeſicht, auch das gemeinſte, immer mehr gewinnt, je mehr man’s anſchaut. — Wenn Augen, Naſen und Mund, wie’s ſeyn ſollte, aber in zehentauſend Portraͤten nicht iſt, im Effekte ſo ſtark aus dem Geſichte ſich auszeichneten, wie in der Natur, man wuͤrde ſehen, wie dieß Geſicht
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Sechs und zwanzigſtes Fragment.
Treue, feſte Charakter von Leuten gemeiner Extraktion.
Von der niedrigſten Stufe der Geiſteskraft treuer, redlicher Charakter bis zur hoͤchſten fuͤhr’
ich hier einige vor.
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Ein Zuͤrcherſcher Landmann.
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Erſt ein Wort von der Zeichnung.
Coͤlla, mit dem Pinſel; Lips — mit der Nadel; Pfenninger mit dem Bleyſtifte, dem
Pinſel und der Nadel — was koͤnnen die, wenn ſie Fleiß aufwenden, im Portraͤte liefern? —
wenigſtens in der gemeinen Natur. —
Und die gemeine Natur — O wie moͤcht’ ich dieſe immer hervorziehen! dieſe beleuch-
ten! dich Menſchenfreund, dich, entzuͤckter Schweber in idealiſchen Regionen — ſanft an der Hand
zuruͤckfuͤhren in das Reich der gemeinſten, alltaͤglichſten Menſchennatur; nicht, dich da allein zu
heften; nicht — dich dahin zu verbannen, und dir jeden Ausflug in hoͤhere unirdiſchere Gegenden
zu verbieten — o nein, Bruder! die Thuͤre und Ausſicht dahin ſoll dir immer offen ſtehen; —
Salz des menſchenfreundlichen Lebens ſollen ſie dir ſeyn, die hoͤhern, reinern Jdeale — aber nicht
Speiſe! So wie’s des erhabenſten Jdeals — Speiſe war, im Namen des Vaters aller auf —
die gemeinſten Menſchen zu wuͤrken.
Ein gemeiners, ich ſage nicht: ein ſchlechteres — ein gemeiners Geſicht — kann wohl
kaum ſeyn, als das Z. B. — Ein Mann — wie mich daͤucht, ohn’ alle Praͤtenſion; der zufrieden,
ſorglos dem Mahler ſeinen Kopf hergiebt, ſitzt, wie er ihn ſitzen heißt; und in die weite Welt hin-
ausſtaunt; nicht dumm, nicht Belehrung unfaͤhig; nicht leicht verfuͤhrbar; ſo — wie er da er-
ſcheint, gerade, treu und redlich; ein Geſicht, das, ſo gemein es in gewiſſer Abſicht iſt, wie jedes
Menſchengeſicht, auch das gemeinſte, immer mehr gewinnt, je mehr man’s anſchaut. — Wenn
Augen, Naſen und Mund, wie’s ſeyn ſollte, aber in zehentauſend Portraͤten nicht iſt, im Effekte
ſo ſtark aus dem Geſichte ſich auszeichneten, wie in der Natur, man wuͤrde ſehen, wie dieß Geſicht
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/343>, abgerufen am 23.02.2025.
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