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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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des physiognomischen Gefühles.
Zweyte Tafel.
Sechzehn Profilköpfe in Ovalen.

Laßt uns noch mit den 16. Köpfen auf dieser Platte einen Versuch machen. Karikaturen?
Wie ihr wollt -- sucht die Originale nirgends in der Welt. -- Wir haben nur Karikaturen vor
uns. Die meisten Originale dazu sind ohne Zweifel viel besser! Wir beurtheilen, was wir vor
uns haben -- die vierte, fünfte Copie -- nicht das Original. -- Unsere Absicht ist, dem Leser
und Forscher so mannichfaltige Köpfe, wie möglich, vorzulegen, und sein physiognomisches Gefühl
zu üben. -- Jeder mag sich prüfen, ob sein Gefühl mit dem Urtheil, das man ihm vorlegen wird,
übereinstimme?

1. -- Ein sehr kränkelnder, schwindsüchtiger, cholerischmelancholischer, einfältiger Schu-
ster. -- (Jm Vorbeygehn zu sagen: Fast keine Art Leute sind so schlecht gebildet, als die Schuster;
und fast keine Art Leute, im Durchschnitte genommen, so mißgestaltet, wie diese -- Auch ist nicht
weniger anmerkungswerth, daß unter 80 Schusterkindern in Zürich nicht mehr als 6 oder 7
Knaben sind. -- Möchte eine weise menschenfreundliche Akademie -- dieß in gemeinnützige Beher-
zigung nehmen! --) Hier sieht man aufs deutlichste, die durch mehr als eine Generation zusam-
mengezogene Würkungskraft, völlig ermangelnd an Leben und Quellgeist. Zuckende Schwäche
und hypochondrischer Starrsinn. Die Anlage dieses Menschen ist gut und man hat eine Ahndung,
daß in einem andern Geschlecht Nase und Mund lebendiger vorgerückt wären, und er zu einem edlen
kräftigen Menschen hätte gezeugt werden können; denn es ist evident verkrüppelte, zusammenge-
schrumpfte, kraftlose, und doch dürr widerhaltende Menschenkraft. Man bemerke an diesem Pro-
file das einwärtsgehende > -- Größtentheils Charakter der Schwäche.
2. -- Jst aufgegangen wie Semmel in Milch. Er hat die möglichen Gränzen seines Da-
seyns alle ausgefüllt. Jn seinem äußern Umriß ist nichts verzogenes, wie in dem ganzen Charak-
ter nichts verschobenes zu seyn scheint. Nur gemeine phlegmatische Beschränktheit und Schwäche.
3. -- Eitle, kurzsinnige Behaglichkeit ohne Moralität, Ausbildung, oder Güte. Leeres
Zutrauen zu sich selbst, stumpfeitle und immer um mangelnde Theilnehmung fragende Gefäl-
ligkeit.
4. Ein
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des phyſiognomiſchen Gefuͤhles.
Zweyte Tafel.
Sechzehn Profilkoͤpfe in Ovalen.

Laßt uns noch mit den 16. Koͤpfen auf dieſer Platte einen Verſuch machen. Karikaturen?
Wie ihr wollt — ſucht die Originale nirgends in der Welt. — Wir haben nur Karikaturen vor
uns. Die meiſten Originale dazu ſind ohne Zweifel viel beſſer! Wir beurtheilen, was wir vor
uns haben — die vierte, fuͤnfte Copie — nicht das Original. — Unſere Abſicht iſt, dem Leſer
und Forſcher ſo mannichfaltige Koͤpfe, wie moͤglich, vorzulegen, und ſein phyſiognomiſches Gefuͤhl
zu uͤben. — Jeder mag ſich pruͤfen, ob ſein Gefuͤhl mit dem Urtheil, das man ihm vorlegen wird,
uͤbereinſtimme?

1. — Ein ſehr kraͤnkelnder, ſchwindſuͤchtiger, choleriſchmelancholiſcher, einfaͤltiger Schu-
ſter. — (Jm Vorbeygehn zu ſagen: Faſt keine Art Leute ſind ſo ſchlecht gebildet, als die Schuſter;
und faſt keine Art Leute, im Durchſchnitte genommen, ſo mißgeſtaltet, wie dieſe — Auch iſt nicht
weniger anmerkungswerth, daß unter 80 Schuſterkindern in Zuͤrich nicht mehr als 6 oder 7
Knaben ſind. — Moͤchte eine weiſe menſchenfreundliche Akademie — dieß in gemeinnuͤtzige Beher-
zigung nehmen! —) Hier ſieht man aufs deutlichſte, die durch mehr als eine Generation zuſam-
mengezogene Wuͤrkungskraft, voͤllig ermangelnd an Leben und Quellgeiſt. Zuckende Schwaͤche
und hypochondriſcher Starrſinn. Die Anlage dieſes Menſchen iſt gut und man hat eine Ahndung,
daß in einem andern Geſchlecht Naſe und Mund lebendiger vorgeruͤckt waͤren, und er zu einem edlen
kraͤftigen Menſchen haͤtte gezeugt werden koͤnnen; denn es iſt evident verkruͤppelte, zuſammenge-
ſchrumpfte, kraftloſe, und doch duͤrr widerhaltende Menſchenkraft. Man bemerke an dieſem Pro-
file das einwaͤrtsgehende > — Groͤßtentheils Charakter der Schwaͤche.
2. — Jſt aufgegangen wie Semmel in Milch. Er hat die moͤglichen Graͤnzen ſeines Da-
ſeyns alle ausgefuͤllt. Jn ſeinem aͤußern Umriß iſt nichts verzogenes, wie in dem ganzen Charak-
ter nichts verſchobenes zu ſeyn ſcheint. Nur gemeine phlegmatiſche Beſchraͤnktheit und Schwaͤche.
3. — Eitle, kurzſinnige Behaglichkeit ohne Moralitaͤt, Ausbildung, oder Guͤte. Leeres
Zutrauen zu ſich ſelbſt, ſtumpfeitle und immer um mangelnde Theilnehmung fragende Gefaͤl-
ligkeit.
4. Ein
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[13/0031] des phyſiognomiſchen Gefuͤhles. Zweyte Tafel. Sechzehn Profilkoͤpfe in Ovalen. Laßt uns noch mit den 16. Koͤpfen auf dieſer Platte einen Verſuch machen. Karikaturen? Wie ihr wollt — ſucht die Originale nirgends in der Welt. — Wir haben nur Karikaturen vor uns. Die meiſten Originale dazu ſind ohne Zweifel viel beſſer! Wir beurtheilen, was wir vor uns haben — die vierte, fuͤnfte Copie — nicht das Original. — Unſere Abſicht iſt, dem Leſer und Forſcher ſo mannichfaltige Koͤpfe, wie moͤglich, vorzulegen, und ſein phyſiognomiſches Gefuͤhl zu uͤben. — Jeder mag ſich pruͤfen, ob ſein Gefuͤhl mit dem Urtheil, das man ihm vorlegen wird, uͤbereinſtimme? 1. — Ein ſehr kraͤnkelnder, ſchwindſuͤchtiger, choleriſchmelancholiſcher, einfaͤltiger Schu- ſter. — (Jm Vorbeygehn zu ſagen: Faſt keine Art Leute ſind ſo ſchlecht gebildet, als die Schuſter; und faſt keine Art Leute, im Durchſchnitte genommen, ſo mißgeſtaltet, wie dieſe — Auch iſt nicht weniger anmerkungswerth, daß unter 80 Schuſterkindern in Zuͤrich nicht mehr als 6 oder 7 Knaben ſind. — Moͤchte eine weiſe menſchenfreundliche Akademie — dieß in gemeinnuͤtzige Beher- zigung nehmen! —) Hier ſieht man aufs deutlichſte, die durch mehr als eine Generation zuſam- mengezogene Wuͤrkungskraft, voͤllig ermangelnd an Leben und Quellgeiſt. Zuckende Schwaͤche und hypochondriſcher Starrſinn. Die Anlage dieſes Menſchen iſt gut und man hat eine Ahndung, daß in einem andern Geſchlecht Naſe und Mund lebendiger vorgeruͤckt waͤren, und er zu einem edlen kraͤftigen Menſchen haͤtte gezeugt werden koͤnnen; denn es iſt evident verkruͤppelte, zuſammenge- ſchrumpfte, kraftloſe, und doch duͤrr widerhaltende Menſchenkraft. Man bemerke an dieſem Pro- file das einwaͤrtsgehende > — Groͤßtentheils Charakter der Schwaͤche. 2. — Jſt aufgegangen wie Semmel in Milch. Er hat die moͤglichen Graͤnzen ſeines Da- ſeyns alle ausgefuͤllt. Jn ſeinem aͤußern Umriß iſt nichts verzogenes, wie in dem ganzen Charak- ter nichts verſchobenes zu ſeyn ſcheint. Nur gemeine phlegmatiſche Beſchraͤnktheit und Schwaͤche. 3. — Eitle, kurzſinnige Behaglichkeit ohne Moralitaͤt, Ausbildung, oder Guͤte. Leeres Zutrauen zu ſich ſelbſt, ſtumpfeitle und immer um mangelnde Theilnehmung fragende Gefaͤl- ligkeit. 4. Ein B 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/31>, abgerufen am 17.11.2024.