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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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Zerstörte menschliche Natur. Rüdgerodt.

Alles dieses ist auf dem Bilde zum Theil, war im lebenden Gesichte ganz zu lesen. Sein
Auge nichts ansehend, an nichts theilnehmend, zitterte hin und her, starrte ins Schattenreich
seiner Diebstähle, spuckte unter den Gestalten der Erschlagenen. Sein Rachen glich einem offnen
Grabe, und seine entsetzlichen Zähne waren Pforten der Hölle.

Es ist keiner meiner Leser, der in dem schwachen Umrisse nicht mehr oder weniger Greuel
entdecke; keiner, der im Blicke, im Munde, im Ganzen einen edeln, offnen, uneigennützigen
Menschenfreund vermuthe; sich dem Menschen nähern, sich ihm mittheilen, sich an ihn anschlies-
sen möchte; keiner, der sagen wird: "Ein liebenswürdiger Mann."

Daß es kein liebenswürdiger Mann sey, dieß zeigt der untere Theil der Silhouette.

Aber warum sah ich anfangs nur lachenden, drollichten Witz, nur das in seiner Art
einzige Urgenie drinn? warum verdrängte der Eindruck von Selbstständigkeit und Originalität
des Kopfes beynahe alle andere, mir itzt nicht weniger auffallenden Züge von kalter, trockner,
abscheulicher Bosheit? --

Der Umriß der Stirn und besonders der Nase verführte mich. Güte, Bonhomie, --
daran kam mir kein Gedanke -- aber dennoch, ich gesteh' es, vermuthet' ich anfangs in der Nase
etwas Edles und Großes -- und es ist nicht Eigensinn und Rechthaberey, wenn ich itzt noch
behaupte: diese Stirn und Nase überzeugen mich aufs Neue von der großen tröstenden Wahrheit:

"Es ist kein Mensch so verrucht, kein Menschenangesicht so abscheulich, in dem
"nicht noch stehende Züge, unaustilgbare Spuren, wenigstens mitgebohrner Trefflich-
"keit übrig bleiben.
"

Hier in dem verruchtesten Menschen sind sie noch auffallend, in dem obern Theile des Pro-
fils vom Angesichte. Dieser Verstand, diese Stärke des Geistes, diese in sich selber stehende, aus
sich selbst still herausarbeitende planvolle Thätigkeit, die sich darinn so sehr auszeichnet -- Jst sie
nicht im Grunde dieselbe Kraft in der Tiefe einer Mördergrube -- und im Cabinette des Kö-
nigs? --

Aber noch einige andere Anmerkungen.

a) Die Stirn hat mehr Kraft, als Güte. Der obere Theil des Stirnbeins vom Haar-
wuchs an bis auf die Höhe des Schädels hab' ich selten in dieser Schiefheit ohne Verstandes-
kraft
B b 2
Zerſtoͤrte menſchliche Natur. Ruͤdgerodt.

Alles dieſes iſt auf dem Bilde zum Theil, war im lebenden Geſichte ganz zu leſen. Sein
Auge nichts anſehend, an nichts theilnehmend, zitterte hin und her, ſtarrte ins Schattenreich
ſeiner Diebſtaͤhle, ſpuckte unter den Geſtalten der Erſchlagenen. Sein Rachen glich einem offnen
Grabe, und ſeine entſetzlichen Zaͤhne waren Pforten der Hoͤlle.

Es iſt keiner meiner Leſer, der in dem ſchwachen Umriſſe nicht mehr oder weniger Greuel
entdecke; keiner, der im Blicke, im Munde, im Ganzen einen edeln, offnen, uneigennuͤtzigen
Menſchenfreund vermuthe; ſich dem Menſchen naͤhern, ſich ihm mittheilen, ſich an ihn anſchlieſ-
ſen moͤchte; keiner, der ſagen wird: „Ein liebenswuͤrdiger Mann.“

Daß es kein liebenswuͤrdiger Mann ſey, dieß zeigt der untere Theil der Silhouette.

Aber warum ſah ich anfangs nur lachenden, drollichten Witz, nur das in ſeiner Art
einzige Urgenie drinn? warum verdraͤngte der Eindruck von Selbſtſtaͤndigkeit und Originalitaͤt
des Kopfes beynahe alle andere, mir itzt nicht weniger auffallenden Zuͤge von kalter, trockner,
abſcheulicher Bosheit? —

Der Umriß der Stirn und beſonders der Naſe verfuͤhrte mich. Guͤte, Bonhomie,
daran kam mir kein Gedanke — aber dennoch, ich geſteh’ es, vermuthet’ ich anfangs in der Naſe
etwas Edles und Großes — und es iſt nicht Eigenſinn und Rechthaberey, wenn ich itzt noch
behaupte: dieſe Stirn und Naſe uͤberzeugen mich aufs Neue von der großen troͤſtenden Wahrheit:

Es iſt kein Menſch ſo verrucht, kein Menſchenangeſicht ſo abſcheulich, in dem
„nicht noch ſtehende Zuͤge, unaustilgbare Spuren, wenigſtens mitgebohrner Trefflich-
„keit uͤbrig bleiben.

Hier in dem verruchteſten Menſchen ſind ſie noch auffallend, in dem obern Theile des Pro-
fils vom Angeſichte. Dieſer Verſtand, dieſe Staͤrke des Geiſtes, dieſe in ſich ſelber ſtehende, aus
ſich ſelbſt ſtill herausarbeitende planvolle Thaͤtigkeit, die ſich darinn ſo ſehr auszeichnet — Jſt ſie
nicht im Grunde dieſelbe Kraft in der Tiefe einer Moͤrdergrube — und im Cabinette des Koͤ-
nigs? —

Aber noch einige andere Anmerkungen.

a) Die Stirn hat mehr Kraft, als Guͤte. Der obere Theil des Stirnbeins vom Haar-
wuchs an bis auf die Hoͤhe des Schaͤdels hab' ich ſelten in dieſer Schiefheit ohne Verſtandes-
kraft
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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/289>, abgerufen am 25.11.2024.