Zwo männliche und zwo weibliche Silhouetten, die ich zum Theil des redenden Ausdruckes, zum Theil des Kontrastes wegen, auf Eine Platte setzen ließ -- und die leuchtender Beweis sind, wie viel man aus bloßen Schattenrissen sehen könne? -- Zwey ausserordentliche Charaktere; beyde, schon in der bloßen Silhouette, von der auffallendsten, treffendsten Bedeutung.
Die zwey obern sind von einem großen musikalischen Genie, das mächtige Kraft und große Kunstfertigkeit mit feiner, inniger Zärtlichkeit verbindet... Ein Jüngling, der sich mir unter einem Haufen von tausenden sogleich auszeichnete, und gewiß noch in der Musik werden kann, -- was Goethe im Drama.
Der Stirn Umriß in 2. -- Buchstabe, Charakter, innerer, vordringender, sanfter Kraft!
Die Oberlippe in 1. Buchstabe innigen Gefühldurstes.
Räsonnirende, entziefernde, ordnende, spaltende Denkkraft ist nicht im Urbilde, und noch weniger im Schatten. -- Desto mehr unbestechliches, zartes, schnelles Wahrheits- und Menschengefühl.
Aber was soll ich zu den untern Silhouetten sagen? -- und all' Jhr lieben Antiphy- siognomisten! was wollt Jhr dazu sagen? -- Ein verstandreicheres Gesicht -- -- einen un- widersprechlich sprechendern Schattenriß hab' ich kaum gesehen. "Tiefe Ueberlegung, Ernst, "Bedacht, und eine durch Kummer abgehärmte Seele ist, was jeder Mensch beym ersten An- "blick dieser Dame sieht. -- Aeusserst eindringend, und alles Große und Kleine durch und durch "blickend ist ihr Verstand; ihre Jmagination nimmt, wenn sie die Feder in der Hand hat, "die höchsten Flüge des Genies. Sie ist eine sehr große französische Dichterinn. Jm Umgange "geht jedoch ihre Jmagination einen ganz verschiedenen Gang; denn, wenn sie bey guter Laune "ist, so ist alles, was sie sagt -- Naivete', und der allerfeinste Witz. Der Styl ihrer Con-
Zwo maͤnnliche und zwo weibliche Silhouetten, die ich zum Theil des redenden Ausdruckes, zum Theil des Kontraſtes wegen, auf Eine Platte ſetzen ließ — und die leuchtender Beweis ſind, wie viel man aus bloßen Schattenriſſen ſehen koͤnne? — Zwey auſſerordentliche Charaktere; beyde, ſchon in der bloßen Silhouette, von der auffallendſten, treffendſten Bedeutung.
Die zwey obern ſind von einem großen muſikaliſchen Genie, das maͤchtige Kraft und große Kunſtfertigkeit mit feiner, inniger Zaͤrtlichkeit verbindet... Ein Juͤngling, der ſich mir unter einem Haufen von tauſenden ſogleich auszeichnete, und gewiß noch in der Muſik werden kann, — was Goethe im Drama.
Der Stirn Umriß in 2. — Buchſtabe, Charakter, innerer, vordringender, ſanfter Kraft!
Die Oberlippe in 1. Buchſtabe innigen Gefuͤhldurſtes.
Raͤſonnirende, entziefernde, ordnende, ſpaltende Denkkraft iſt nicht im Urbilde, und noch weniger im Schatten. — Deſto mehr unbeſtechliches, zartes, ſchnelles Wahrheits- und Menſchengefuͤhl.
Aber was ſoll ich zu den untern Silhouetten ſagen? — und all’ Jhr lieben Antiphy- ſiognomiſten! was wollt Jhr dazu ſagen? — Ein verſtandreicheres Geſicht — — einen un- widerſprechlich ſprechendern Schattenriß hab’ ich kaum geſehen. „Tiefe Ueberlegung, Ernſt, „Bedacht, und eine durch Kummer abgehaͤrmte Seele iſt, was jeder Menſch beym erſten An- „blick dieſer Dame ſieht. — Aeuſſerſt eindringend, und alles Große und Kleine durch und durch „blickend iſt ihr Verſtand; ihre Jmagination nimmt, wenn ſie die Feder in der Hand hat, „die hoͤchſten Fluͤge des Genies. Sie iſt eine ſehr große franzoͤſiſche Dichterinn. Jm Umgange „geht jedoch ihre Jmagination einen ganz verſchiedenen Gang; denn, wenn ſie bey guter Laune „iſt, ſo iſt alles, was ſie ſagt — Naivete’, und der allerfeinſte Witz. Der Styl ihrer Con-
verſation
<TEI><text><body><divn="2"><pbfacs="#f0153"n="111"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Schattenriſſen ſehen laſſe.</hi></fw><lb/><divn="3"><head><hirendition="#g"><hirendition="#fr">Siebente Tafel.</hi><lb/><hirendition="#b">Zwo maͤnnliche, zwo weibliche Silhouetten.</hi></hi></head><lb/><p><hirendition="#in">Z</hi>wo maͤnnliche und zwo weibliche Silhouetten, die ich zum Theil des redenden Ausdruckes,<lb/>
zum Theil des Kontraſtes wegen, auf Eine Platte ſetzen ließ — und die leuchtender Beweis<lb/>ſind, wie viel man aus bloßen Schattenriſſen ſehen koͤnne? — Zwey auſſerordentliche Charaktere;<lb/>
beyde, ſchon in der bloßen Silhouette, von der auffallendſten, treffendſten Bedeutung.</p><lb/><p>Die zwey obern ſind von einem großen muſikaliſchen Genie, das maͤchtige Kraft und<lb/>
große Kunſtfertigkeit mit feiner, inniger Zaͤrtlichkeit verbindet... Ein Juͤngling, der ſich mir<lb/>
unter einem Haufen von tauſenden ſogleich auszeichnete, und gewiß noch in der Muſik werden<lb/>
kann, — was <hirendition="#fr">Goethe</hi> im Drama.</p><lb/><p>Der Stirn Umriß in 2. — Buchſtabe, Charakter, innerer, vordringender, ſanfter Kraft!</p><lb/><p>Die Oberlippe in 1. Buchſtabe innigen Gefuͤhldurſtes.</p><lb/><p>Raͤſonnirende, entziefernde, ordnende, ſpaltende Denkkraft iſt nicht im Urbilde, und<lb/>
noch weniger im Schatten. — Deſto mehr unbeſtechliches, zartes, ſchnelles Wahrheits- und<lb/>
Menſchengefuͤhl.</p><lb/><p>Aber was ſoll ich zu den untern Silhouetten ſagen? — und all’ Jhr lieben Antiphy-<lb/>ſiognomiſten! was wollt Jhr dazu ſagen? — Ein verſtandreicheres Geſicht —— einen un-<lb/>
widerſprechlich ſprechendern Schattenriß hab’ ich kaum geſehen. „Tiefe Ueberlegung, Ernſt,<lb/>„Bedacht, und eine durch Kummer abgehaͤrmte Seele iſt, was jeder Menſch beym erſten An-<lb/>„blick dieſer Dame ſieht. — Aeuſſerſt eindringend, und alles Große und Kleine durch und durch<lb/>„blickend iſt ihr Verſtand; ihre Jmagination nimmt, wenn ſie die Feder in der Hand hat,<lb/>„die hoͤchſten Fluͤge des Genies. Sie iſt eine ſehr große franzoͤſiſche Dichterinn. Jm Umgange<lb/>„geht jedoch ihre Jmagination einen ganz verſchiedenen Gang; denn, wenn ſie bey guter Laune<lb/>„iſt, ſo iſt alles, was ſie ſagt — Naivete’, und der allerfeinſte Witz. Der Styl ihrer Con-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">verſation</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[111/0153]
Schattenriſſen ſehen laſſe.
Siebente Tafel.
Zwo maͤnnliche, zwo weibliche Silhouetten.
Zwo maͤnnliche und zwo weibliche Silhouetten, die ich zum Theil des redenden Ausdruckes,
zum Theil des Kontraſtes wegen, auf Eine Platte ſetzen ließ — und die leuchtender Beweis
ſind, wie viel man aus bloßen Schattenriſſen ſehen koͤnne? — Zwey auſſerordentliche Charaktere;
beyde, ſchon in der bloßen Silhouette, von der auffallendſten, treffendſten Bedeutung.
Die zwey obern ſind von einem großen muſikaliſchen Genie, das maͤchtige Kraft und
große Kunſtfertigkeit mit feiner, inniger Zaͤrtlichkeit verbindet... Ein Juͤngling, der ſich mir
unter einem Haufen von tauſenden ſogleich auszeichnete, und gewiß noch in der Muſik werden
kann, — was Goethe im Drama.
Der Stirn Umriß in 2. — Buchſtabe, Charakter, innerer, vordringender, ſanfter Kraft!
Die Oberlippe in 1. Buchſtabe innigen Gefuͤhldurſtes.
Raͤſonnirende, entziefernde, ordnende, ſpaltende Denkkraft iſt nicht im Urbilde, und
noch weniger im Schatten. — Deſto mehr unbeſtechliches, zartes, ſchnelles Wahrheits- und
Menſchengefuͤhl.
Aber was ſoll ich zu den untern Silhouetten ſagen? — und all’ Jhr lieben Antiphy-
ſiognomiſten! was wollt Jhr dazu ſagen? — Ein verſtandreicheres Geſicht — — einen un-
widerſprechlich ſprechendern Schattenriß hab’ ich kaum geſehen. „Tiefe Ueberlegung, Ernſt,
„Bedacht, und eine durch Kummer abgehaͤrmte Seele iſt, was jeder Menſch beym erſten An-
„blick dieſer Dame ſieht. — Aeuſſerſt eindringend, und alles Große und Kleine durch und durch
„blickend iſt ihr Verſtand; ihre Jmagination nimmt, wenn ſie die Feder in der Hand hat,
„die hoͤchſten Fluͤge des Genies. Sie iſt eine ſehr große franzoͤſiſche Dichterinn. Jm Umgange
„geht jedoch ihre Jmagination einen ganz verſchiedenen Gang; denn, wenn ſie bey guter Laune
„iſt, ſo iſt alles, was ſie ſagt — Naivete’, und der allerfeinſte Witz. Der Styl ihrer Con-
verſation
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/153>, abgerufen am 23.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.