Welche Verachtung trifft billig den schlechten Uebersetzer eines vortrefflichen Werkes! ... welche Verachtung gebührte dem wässernden, geistverschwemmenden Uebersetzer der göttlichen Schriften, die, wenn sie auch nicht göttlich wären, als alte allgemein verehrte Urkunden der Menschheit und der Religion der Menschheit -- nicht verunstaltet und durch die Uebersetzung ver- fälscht zu werden verdienen -- und nun -- man erlaube mir die, wie man bald sehen wird, hieher gehörige, Betrachtung -- Nun ist's doch gewiß, die göttlichsten Schriften sind doch in gewissem Sinne Werke der Menschen! sie, die Menschen, dachten; sie sahen; sie hörten -- sie fühlten; sie schrieben -- die Kräfte dazu waren nun einmal ihre Kräfte; wie sie nun immer dazu gekommen seyn mögen ... Gottes Werk und Kraft in ihnen -- wie das Leben, das ihr Leben war, ob wohl Gottes! Und nun -- wie viel größer ist jeder Würker, als seine unmittelbare absichtliche Wür- kung? wie viel ehrwürdiger, heiliger ein lebendiger Mensch, als alles, was der Mensch würken und hervorbringen kann? wie viel erhabner Sokrates, als alles, was Xenophon von ihm er- zählt? und als alles, was Sokrates geredet und allenfalls geschrieben hat? als alles, was er in seinem ganzen Leben auf Erden hätte reden, schreiben und würken können? -- wie unendlich mehr Christus, als das Neue Testament? -- So auch überhaupt, wie jeder Mensch, auch der schlech- teste mehr, als alles, was der beste, weiseste, göttlichste, inspirirteste geschrieben hat? Wie heilig und ehrwürdig also sollte dem Mahler das gemeinste Menschenangesicht seyn! --
"Woher mag es doch kommen, fährt Sulzer fort, daß man an einigen Orten einen "schlechten Porträtmahler im Spaße einen Seelenmahler nennt; da der wahre Künstler dieser "Gattung ein eigentlicher guter Seelenmahler ist."
Vermuthlich daher, weil man damit sagen will: er kann das Gesicht so wenig mahlen als die Seele! oder, er kann nichts weiter als einen punktirten Schatten, wie man etwa die Seele zu mahlen pflegt, mahlen. Dem sey wie ihm wolle; -- wer nicht die Seele im Gesichte sieht, kann sie nicht mahlen -- und wer diese nicht mahlen kann, ist kein Porträtmahler.
"Jedes vollkommne Porträt ist ein wichtiges Gemählde, weil es uns eine menschliche "Seele von eignem persönlichem Charakter zu erkennen giebt; wir sehen in demselben ein Wesen, "in welchem Verstand, Neigungen, Gesinnungen, Leidenschaften, gute und schlimme Eigenschaf- "ten des Geistes und des Herzens auf eine ihm eigne und besondre Art gemischt sind. Dieses sehen
wir
IX. Fragment.
Welche Verachtung trifft billig den ſchlechten Ueberſetzer eines vortrefflichen Werkes! ... welche Verachtung gebuͤhrte dem waͤſſernden, geiſtverſchwemmenden Ueberſetzer der goͤttlichen Schriften, die, wenn ſie auch nicht goͤttlich waͤren, als alte allgemein verehrte Urkunden der Menſchheit und der Religion der Menſchheit — nicht verunſtaltet und durch die Ueberſetzung ver- faͤlſcht zu werden verdienen — und nun — man erlaube mir die, wie man bald ſehen wird, hieher gehoͤrige, Betrachtung — Nun iſt’s doch gewiß, die goͤttlichſten Schriften ſind doch in gewiſſem Sinne Werke der Menſchen! ſie, die Menſchen, dachten; ſie ſahen; ſie hoͤrten — ſie fuͤhlten; ſie ſchrieben — die Kraͤfte dazu waren nun einmal ihre Kraͤfte; wie ſie nun immer dazu gekommen ſeyn moͤgen ... Gottes Werk und Kraft in ihnen — wie das Leben, das ihr Leben war, ob wohl Gottes! Und nun — wie viel groͤßer iſt jeder Wuͤrker, als ſeine unmittelbare abſichtliche Wuͤr- kung? wie viel ehrwuͤrdiger, heiliger ein lebendiger Menſch, als alles, was der Menſch wuͤrken und hervorbringen kann? wie viel erhabner Sokrates, als alles, was Xenophon von ihm er- zaͤhlt? und als alles, was Sokrates geredet und allenfalls geſchrieben hat? als alles, was er in ſeinem ganzen Leben auf Erden haͤtte reden, ſchreiben und wuͤrken koͤnnen? — wie unendlich mehr Chriſtus, als das Neue Teſtament? — So auch uͤberhaupt, wie jeder Menſch, auch der ſchlech- teſte mehr, als alles, was der beſte, weiſeſte, goͤttlichſte, inſpirirteſte geſchrieben hat? Wie heilig und ehrwuͤrdig alſo ſollte dem Mahler das gemeinſte Menſchenangeſicht ſeyn! —
„Woher mag es doch kommen, faͤhrt Sulzer fort, daß man an einigen Orten einen „ſchlechten Portraͤtmahler im Spaße einen Seelenmahler nennt; da der wahre Kuͤnſtler dieſer „Gattung ein eigentlicher guter Seelenmahler iſt.“
Vermuthlich daher, weil man damit ſagen will: er kann das Geſicht ſo wenig mahlen als die Seele! oder, er kann nichts weiter als einen punktirten Schatten, wie man etwa die Seele zu mahlen pflegt, mahlen. Dem ſey wie ihm wolle; — wer nicht die Seele im Geſichte ſieht, kann ſie nicht mahlen — und wer dieſe nicht mahlen kann, iſt kein Portraͤtmahler.
„Jedes vollkommne Portraͤt iſt ein wichtiges Gemaͤhlde, weil es uns eine menſchliche „Seele von eignem perſoͤnlichem Charakter zu erkennen giebt; wir ſehen in demſelben ein Weſen, „in welchem Verſtand, Neigungen, Geſinnungen, Leidenſchaften, gute und ſchlimme Eigenſchaf- „ten des Geiſtes und des Herzens auf eine ihm eigne und beſondre Art gemiſcht ſind. Dieſes ſehen
wir
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IX. Fragment.
Welche Verachtung trifft billig den ſchlechten Ueberſetzer eines vortrefflichen Werkes! ...
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Schriften, die, wenn ſie auch nicht goͤttlich waͤren, als alte allgemein verehrte Urkunden der
Menſchheit und der Religion der Menſchheit — nicht verunſtaltet und durch die Ueberſetzung ver-
faͤlſcht zu werden verdienen — und nun — man erlaube mir die, wie man bald ſehen wird, hieher
gehoͤrige, Betrachtung — Nun iſt’s doch gewiß, die goͤttlichſten Schriften ſind doch in gewiſſem
Sinne Werke der Menſchen! ſie, die Menſchen, dachten; ſie ſahen; ſie hoͤrten — ſie fuͤhlten; ſie
ſchrieben — die Kraͤfte dazu waren nun einmal ihre Kraͤfte; wie ſie nun immer dazu gekommen
ſeyn moͤgen ... Gottes Werk und Kraft in ihnen — wie das Leben, das ihr Leben war, ob
wohl Gottes! Und nun — wie viel groͤßer iſt jeder Wuͤrker, als ſeine unmittelbare abſichtliche Wuͤr-
kung? wie viel ehrwuͤrdiger, heiliger ein lebendiger Menſch, als alles, was der Menſch wuͤrken
und hervorbringen kann? wie viel erhabner Sokrates, als alles, was Xenophon von ihm er-
zaͤhlt? und als alles, was Sokrates geredet und allenfalls geſchrieben hat? als alles, was er in
ſeinem ganzen Leben auf Erden haͤtte reden, ſchreiben und wuͤrken koͤnnen? — wie unendlich mehr
Chriſtus, als das Neue Teſtament? — So auch uͤberhaupt, wie jeder Menſch, auch der ſchlech-
teſte mehr, als alles, was der beſte, weiſeſte, goͤttlichſte, inſpirirteſte geſchrieben hat? Wie heilig
und ehrwuͤrdig alſo ſollte dem Mahler das gemeinſte Menſchenangeſicht ſeyn! —
„Woher mag es doch kommen, faͤhrt Sulzer fort, daß man an einigen Orten einen
„ſchlechten Portraͤtmahler im Spaße einen Seelenmahler nennt; da der wahre Kuͤnſtler dieſer
„Gattung ein eigentlicher guter Seelenmahler iſt.“
Vermuthlich daher, weil man damit ſagen will: er kann das Geſicht ſo wenig mahlen
als die Seele! oder, er kann nichts weiter als einen punktirten Schatten, wie man etwa die Seele
zu mahlen pflegt, mahlen. Dem ſey wie ihm wolle; — wer nicht die Seele im Geſichte ſieht,
kann ſie nicht mahlen — und wer dieſe nicht mahlen kann, iſt kein Portraͤtmahler.
„Jedes vollkommne Portraͤt iſt ein wichtiges Gemaͤhlde, weil es uns eine menſchliche
„Seele von eignem perſoͤnlichem Charakter zu erkennen giebt; wir ſehen in demſelben ein Weſen,
„in welchem Verſtand, Neigungen, Geſinnungen, Leidenſchaften, gute und ſchlimme Eigenſchaf-
„ten des Geiſtes und des Herzens auf eine ihm eigne und beſondre Art gemiſcht ſind. Dieſes ſehen
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/108>, abgerufen am 16.02.2025.
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