Nun wieder eingelenkt. Von dieser richtigen Freyheit ist das obere der beyden Mund- stücke, die wir vor uns haben, ein Beyspiel.
Das untere ist halb gespannt, halb lässig.
Wenn Gespanntheit und Lässigkeit in einander fließen, wie in der Bleyschnur -- wie im obern Munde, -- dann vortrefflich; wenn sie zusammengestückt sind, unerträglich.
Ein Mund, der an einem Ende sich steif zudrückt, an dem andern sich lässig öffnen will -- wird immer unerträglicher Ausdruck von irgend einer unerträglichen Gemüthsart. -- Jch glaube, das obere Mundstück -- ist nach einer Gipsbüste von Plato -- das untere von einem seelenlosen Kerl, der zuschaut, wie Paulus gegeiselt wird, ich vermuthe nach Raphael, wie voll spottender Verachtung?
Und nun noch Ein Wort vom Barthaare -- Könnt ihr euch erwehren, in der Verschieden- heit des Bartes eine sehr große Verschiedenheit des Ausdrucks und des Charakters zu bemerken? gefällt das obere unverworrene, nicht glatte, nicht wildkrause Barthaar nicht mehr, wie das un- tere? zeigt's nicht mehr Ruhe -- Leidenschaftlosigkeit? Geschmack?
Jch schließe diese Zugabe mit einem Worte Winkelmanns,*) das ich itzt ohne Prü- fung und Anmerkung hinsetze:
"Von dem schönen Barte des vermeynten Plato könnte gelten, was der ältere Skaliger "überhaupt von dem Barte sagt: daß derselbe das schönste und göttlichste Theil des Men- schen sey." .....
Zweyte
*) Herkul. Entdeckungen 35. 36.
VIII. Fragment. Zugabe. Ueber zwey Mundſtuͤcke.
Nun wieder eingelenkt. Von dieſer richtigen Freyheit iſt das obere der beyden Mund- ſtuͤcke, die wir vor uns haben, ein Beyſpiel.
Das untere iſt halb geſpannt, halb laͤſſig.
Wenn Geſpanntheit und Laͤſſigkeit in einander fließen, wie in der Bleyſchnur — wie im obern Munde, — dann vortrefflich; wenn ſie zuſammengeſtuͤckt ſind, unertraͤglich.
Ein Mund, der an einem Ende ſich ſteif zudruͤckt, an dem andern ſich laͤſſig oͤffnen will — wird immer unertraͤglicher Ausdruck von irgend einer unertraͤglichen Gemuͤthsart. — Jch glaube, das obere Mundſtuͤck — iſt nach einer Gipsbuͤſte von Plato — das untere von einem ſeelenloſen Kerl, der zuſchaut, wie Paulus gegeiſelt wird, ich vermuthe nach Raphael, wie voll ſpottender Verachtung?
Und nun noch Ein Wort vom Barthaare — Koͤnnt ihr euch erwehren, in der Verſchieden- heit des Bartes eine ſehr große Verſchiedenheit des Ausdrucks und des Charakters zu bemerken? gefaͤllt das obere unverworrene, nicht glatte, nicht wildkrauſe Barthaar nicht mehr, wie das un- tere? zeigt’s nicht mehr Ruhe — Leidenſchaftloſigkeit? Geſchmack?
Jch ſchließe dieſe Zugabe mit einem Worte Winkelmanns,*) das ich itzt ohne Pruͤ- fung und Anmerkung hinſetze:
„Von dem ſchoͤnen Barte des vermeynten Plato koͤnnte gelten, was der aͤltere Skaliger „uͤberhaupt von dem Barte ſagt: daß derſelbe das ſchoͤnſte und goͤttlichſte Theil des Men- ſchen ſey.“ .....
Zweyte
*) Herkul. Entdeckungen 35. 36.
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VIII. Fragment. Zugabe. Ueber zwey Mundſtuͤcke.
Nun wieder eingelenkt. Von dieſer richtigen Freyheit iſt das obere der beyden Mund-
ſtuͤcke, die wir vor uns haben, ein Beyſpiel.
Das untere iſt halb geſpannt, halb laͤſſig.
Wenn Geſpanntheit und Laͤſſigkeit in einander fließen, wie in der Bleyſchnur — wie im
obern Munde, — dann vortrefflich; wenn ſie zuſammengeſtuͤckt ſind, unertraͤglich.
Ein Mund, der an einem Ende ſich ſteif zudruͤckt, an dem andern ſich laͤſſig oͤffnen will —
wird immer unertraͤglicher Ausdruck von irgend einer unertraͤglichen Gemuͤthsart. — Jch glaube,
das obere Mundſtuͤck — iſt nach einer Gipsbuͤſte von Plato — das untere von einem ſeelenloſen
Kerl, der zuſchaut, wie Paulus gegeiſelt wird, ich vermuthe nach Raphael, wie voll ſpottender
Verachtung?
Und nun noch Ein Wort vom Barthaare — Koͤnnt ihr euch erwehren, in der Verſchieden-
heit des Bartes eine ſehr große Verſchiedenheit des Ausdrucks und des Charakters zu bemerken?
gefaͤllt das obere unverworrene, nicht glatte, nicht wildkrauſe Barthaar nicht mehr, wie das un-
tere? zeigt’s nicht mehr Ruhe — Leidenſchaftloſigkeit? Geſchmack?
Jch ſchließe dieſe Zugabe mit einem Worte Winkelmanns, *) das ich itzt ohne Pruͤ-
fung und Anmerkung hinſetze:
„Von dem ſchoͤnen Barte des vermeynten Plato koͤnnte gelten, was der aͤltere Skaliger
„uͤberhaupt von dem Barte ſagt: daß derſelbe das ſchoͤnſte und goͤttlichſte Theil des Men-
ſchen ſey.“ .....
Zweyte
*) Herkul. Entdeckungen 35. 36.
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/100>, abgerufen am 16.02.2025.
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