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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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der moralischen und körperlichen Schönheit.

Man erwege ferner:

Es giebt eine unzählbare Menge mannichfaltiger, kleiner, niedriger, unangenehmer
Denkarten, Manieren, Grobheiten, Launen, Unmäßigkeiten, Hänge, kleinlicher Begierden,
Unflätereyen, Narrheiten, Schiefen, Krümmen des Herzens, die man einzeln, und auch hau-
fenweise beysammen, doch noch lange nicht Laster heißt; -- deren viele zusammen aber einen
Menschen häßlich erniedrigen, verderben, verekeln können. Behält er seine Treue im Handel
und Wandel, hat keine Hauptlaster und noch oben drein ein wenig von einer gewissen bürger-
lichen Frömmigkeit -- so nennt man ihn einen braven, einen recht braven Menschen, wider
den man nichts haben kann. Freylich so giebt's eine Menge braver und doch häßlicher Leute. --
Jch hoffe, mich hierüber bestimmt genug erklärt zu haben.

4. Und viertens müssen wir den Standpunkt, aus dem wir die Harmonie der morali-
schen und körperlichen Schönheit betrachten, nur etwas entfernter nehmen, so werden einerseits
noch viele Einwendungen wegfallen, und anderseits wird nur die Sache um so viel wichtiger
werden.

Wir betrachten nämlich nicht nur die unmittelbarsten Wirkungen der Moralität und
Jmmoralität auf die Schönheit des menschlichen Angesichts; sondern auch mittelbare Fol-
gen derselben zur körperlichen Verschönerung oder Verunzierung des menschlichen Geschlechtes.
Jch geh' unter eine Menge Volks -- ich sehe den Pöbel -- ich wandle durch Dörfer -- klei-
ne Städte, große Städte -- sehe die Schlechtesten jedes Orts -- vornehmen und gemeinen
Pöbel! und eine traurige Verwüstung, eine traurige Menge häßlicher, verzogener Gesichter --
Carikaturen aller Arten treff ich an. -- Die Bemerkung entgeht mir nie, daß der Pöbel zu-
sammengenommen ordentlich die gröbste Carikatur des National-Stadt-Dorfcharacters ist. --
Aber so entsetzlich viel Häßlichkeit, daß meine Seele tief bedrückt und verwundet umherwan-
delt, und meine Augen sich wenden, wenn mich das Bild eines mittelmäßig schönen Men-
schen -- das auch gewiß nicht überspannte Jdeal einer Menschenfigur, verfolgt. Es ist wohl
eine Verfolgung, das späte Vorschweben des Glückbildes, was man besitzen könnte, und von
dem man ach so entfernt ist!

Einen
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der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.

Man erwege ferner:

Es giebt eine unzaͤhlbare Menge mannichfaltiger, kleiner, niedriger, unangenehmer
Denkarten, Manieren, Grobheiten, Launen, Unmaͤßigkeiten, Haͤnge, kleinlicher Begierden,
Unflaͤtereyen, Narrheiten, Schiefen, Kruͤmmen des Herzens, die man einzeln, und auch hau-
fenweiſe beyſammen, doch noch lange nicht Laſter heißt; — deren viele zuſammen aber einen
Menſchen haͤßlich erniedrigen, verderben, verekeln koͤnnen. Behaͤlt er ſeine Treue im Handel
und Wandel, hat keine Hauptlaſter und noch oben drein ein wenig von einer gewiſſen buͤrger-
lichen Froͤmmigkeit — ſo nennt man ihn einen braven, einen recht braven Menſchen, wider
den man nichts haben kann. Freylich ſo giebt's eine Menge braver und doch haͤßlicher Leute. —
Jch hoffe, mich hieruͤber beſtimmt genug erklaͤrt zu haben.

4. Und viertens muͤſſen wir den Standpunkt, aus dem wir die Harmonie der morali-
ſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit betrachten, nur etwas entfernter nehmen, ſo werden einerſeits
noch viele Einwendungen wegfallen, und anderſeits wird nur die Sache um ſo viel wichtiger
werden.

Wir betrachten naͤmlich nicht nur die unmittelbarſten Wirkungen der Moralitaͤt und
Jmmoralitaͤt auf die Schoͤnheit des menſchlichen Angeſichts; ſondern auch mittelbare Fol-
gen derſelben zur koͤrperlichen Verſchoͤnerung oder Verunzierung des menſchlichen Geſchlechtes.
Jch geh' unter eine Menge Volks — ich ſehe den Poͤbel — ich wandle durch Doͤrfer — klei-
ne Staͤdte, große Staͤdte — ſehe die Schlechteſten jedes Orts — vornehmen und gemeinen
Poͤbel! und eine traurige Verwuͤſtung, eine traurige Menge haͤßlicher, verzogener Geſichter —
Carikaturen aller Arten treff ich an. — Die Bemerkung entgeht mir nie, daß der Poͤbel zu-
ſammengenommen ordentlich die groͤbſte Carikatur des National-Stadt-Dorfcharacters iſt. —
Aber ſo entſetzlich viel Haͤßlichkeit, daß meine Seele tief bedruͤckt und verwundet umherwan-
delt, und meine Augen ſich wenden, wenn mich das Bild eines mittelmaͤßig ſchoͤnen Men-
ſchen — das auch gewiß nicht uͤberſpannte Jdeal einer Menſchenfigur, verfolgt. Es iſt wohl
eine Verfolgung, das ſpaͤte Vorſchweben des Gluͤckbildes, was man beſitzen koͤnnte, und von
dem man ach ſo entfernt iſt!

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[69/0097] der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit. Man erwege ferner: Es giebt eine unzaͤhlbare Menge mannichfaltiger, kleiner, niedriger, unangenehmer Denkarten, Manieren, Grobheiten, Launen, Unmaͤßigkeiten, Haͤnge, kleinlicher Begierden, Unflaͤtereyen, Narrheiten, Schiefen, Kruͤmmen des Herzens, die man einzeln, und auch hau- fenweiſe beyſammen, doch noch lange nicht Laſter heißt; — deren viele zuſammen aber einen Menſchen haͤßlich erniedrigen, verderben, verekeln koͤnnen. Behaͤlt er ſeine Treue im Handel und Wandel, hat keine Hauptlaſter und noch oben drein ein wenig von einer gewiſſen buͤrger- lichen Froͤmmigkeit — ſo nennt man ihn einen braven, einen recht braven Menſchen, wider den man nichts haben kann. Freylich ſo giebt's eine Menge braver und doch haͤßlicher Leute. — Jch hoffe, mich hieruͤber beſtimmt genug erklaͤrt zu haben. 4. Und viertens muͤſſen wir den Standpunkt, aus dem wir die Harmonie der morali- ſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit betrachten, nur etwas entfernter nehmen, ſo werden einerſeits noch viele Einwendungen wegfallen, und anderſeits wird nur die Sache um ſo viel wichtiger werden. Wir betrachten naͤmlich nicht nur die unmittelbarſten Wirkungen der Moralitaͤt und Jmmoralitaͤt auf die Schoͤnheit des menſchlichen Angeſichts; ſondern auch mittelbare Fol- gen derſelben zur koͤrperlichen Verſchoͤnerung oder Verunzierung des menſchlichen Geſchlechtes. Jch geh' unter eine Menge Volks — ich ſehe den Poͤbel — ich wandle durch Doͤrfer — klei- ne Staͤdte, große Staͤdte — ſehe die Schlechteſten jedes Orts — vornehmen und gemeinen Poͤbel! und eine traurige Verwuͤſtung, eine traurige Menge haͤßlicher, verzogener Geſichter — Carikaturen aller Arten treff ich an. — Die Bemerkung entgeht mir nie, daß der Poͤbel zu- ſammengenommen ordentlich die groͤbſte Carikatur des National-Stadt-Dorfcharacters iſt. — Aber ſo entſetzlich viel Haͤßlichkeit, daß meine Seele tief bedruͤckt und verwundet umherwan- delt, und meine Augen ſich wenden, wenn mich das Bild eines mittelmaͤßig ſchoͤnen Men- ſchen — das auch gewiß nicht uͤberſpannte Jdeal einer Menſchenfigur, verfolgt. Es iſt wohl eine Verfolgung, das ſpaͤte Vorſchweben des Gluͤckbildes, was man beſitzen koͤnnte, und von dem man ach ſo entfernt iſt! Einen K 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/97>, abgerufen am 24.11.2024.