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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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der moralischen und körperlichen Schönheit.

Und da diese guten Züge mitten aus einem häßlichen Gesichte, und die häßlichen Zü-
ge, mitten aus einem schönen -- so sehr hervorstechen, daß sie kräftiger auf uns wirken, als
das andere alle; beweist das nicht eben mit, daß diese Schönheitslinien feiner, edler, sprechen-
der sind, als die übrigen mehr körperlichen?

Man sage nicht: "daß diese Sympathie, und Antipathie, erst durch Umgang, wo sich
"Häßlichkeiten, oder Schönheiten der Seele aufdecken, erzeuget werde." Jm ersten Augen-
blicke geschieht dieß, wie oft! Man sage auch nicht: "daß dieß durch einen Schluß auf die
"Gemüthsart der Person geschehe; weil wir vorher etwa in ähnlichen Fällen, oft erfahren
"haben, daß Personen, die bey ihrer Häßlichkeit noch solche Züge haben, liebenswürdige, oder
"die bey ihrer Schönheit, noch solche unangenehme Züge haben, schlechte Seelen seyn."
Freylich geschieht dieß sehr oft; aber dadurch wird die Wahrheit unserer Behauptung nicht
aufgehoben. Beydes kann neben einander stehen. Die Kinder zeigen, wie wenig diese Ein-
wendung zu bedeuten habe. Kinder, die, noch vor aller solcher Erfahrung, mit ihren Augen
wonnevoll an einem Gesichte hangen bleiben, das nichts minder als fleischlich schön, als
hübsch ist, das aber eine schöne Seele ausdrückt; und hingegen im umgekehrten Falle, so oft
herzlich zu schreyen anfangen.

An einem jährigen Kinde hab ich von beyden in einer halben Stunde den frappan-
testen Beweis gesehen.

Ein Bauergreis, eingefallenen Angesichts, krumm und dabey wohl tölpisch in Schritt und
Manier, -- seine grauen glatten Haare fielen ihm unordentlich über die Stirne herunter, und deckten
ihm oft das halbe Gesicht: -- der tritt herein. Kaum sieht er das Kind an, nähert's sich ihm,
stammelt sehr gesprächig, was es im Vermögen hatte, thut freundlich und legt sich mit seinem Arme
über seine Kniee. Es war, wie ich ihn schon lange gekannt hatte, ein guter, frommer Alter. Jn
derselben halben Stunde tritt ein junger, herrischer Müllers- oder Schulzensohn herein -- wohl ge-
putzt, mit rothem Camisol und silbernen Knöpfchen -- ein hübsch Gesicht und gute Gestalt. Das
Kind wirft einen Blick auf diesen Kerl -- recht so mitten im Angesicht, kehrt sich sachte um und
entfernt sich. Man mußte ihm befehlen: geh hin, biet ihm das Händchen. Es geht langsam
thut's kurz, und kehrt schnell zurück, und ein Seufzer verrieth zurückgehaltenes Weinen.

-- Der
Phys. Fragm. I. Versuch. K
der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.

Und da dieſe guten Zuͤge mitten aus einem haͤßlichen Geſichte, und die haͤßlichen Zuͤ-
ge, mitten aus einem ſchoͤnen — ſo ſehr hervorſtechen, daß ſie kraͤftiger auf uns wirken, als
das andere alle; beweiſt das nicht eben mit, daß dieſe Schoͤnheitslinien feiner, edler, ſprechen-
der ſind, als die uͤbrigen mehr koͤrperlichen?

Man ſage nicht: „daß dieſe Sympathie, und Antipathie, erſt durch Umgang, wo ſich
„Haͤßlichkeiten, oder Schoͤnheiten der Seele aufdecken, erzeuget werde.“ Jm erſten Augen-
blicke geſchieht dieß, wie oft! Man ſage auch nicht: „daß dieß durch einen Schluß auf die
„Gemuͤthsart der Perſon geſchehe; weil wir vorher etwa in aͤhnlichen Faͤllen, oft erfahren
„haben, daß Perſonen, die bey ihrer Haͤßlichkeit noch ſolche Zuͤge haben, liebenswuͤrdige, oder
„die bey ihrer Schoͤnheit, noch ſolche unangenehme Zuͤge haben, ſchlechte Seelen ſeyn.“
Freylich geſchieht dieß ſehr oft; aber dadurch wird die Wahrheit unſerer Behauptung nicht
aufgehoben. Beydes kann neben einander ſtehen. Die Kinder zeigen, wie wenig dieſe Ein-
wendung zu bedeuten habe. Kinder, die, noch vor aller ſolcher Erfahrung, mit ihren Augen
wonnevoll an einem Geſichte hangen bleiben, das nichts minder als fleiſchlich ſchoͤn, als
huͤbſch iſt, das aber eine ſchoͤne Seele ausdruͤckt; und hingegen im umgekehrten Falle, ſo oft
herzlich zu ſchreyen anfangen.

An einem jaͤhrigen Kinde hab ich von beyden in einer halben Stunde den frappan-
teſten Beweis geſehen.

Ein Bauergreis, eingefallenen Angeſichts, krumm und dabey wohl toͤlpiſch in Schritt und
Manier, — ſeine grauen glatten Haare fielen ihm unordentlich uͤber die Stirne herunter, und deckten
ihm oft das halbe Geſicht: — der tritt herein. Kaum ſieht er das Kind an, naͤhert's ſich ihm,
ſtammelt ſehr geſpraͤchig, was es im Vermoͤgen hatte, thut freundlich und legt ſich mit ſeinem Arme
uͤber ſeine Kniee. Es war, wie ich ihn ſchon lange gekannt hatte, ein guter, frommer Alter. Jn
derſelben halben Stunde tritt ein junger, herriſcher Muͤllers- oder Schulzenſohn herein — wohl ge-
putzt, mit rothem Camiſol und ſilbernen Knoͤpfchen — ein huͤbſch Geſicht und gute Geſtalt. Das
Kind wirft einen Blick auf dieſen Kerl — recht ſo mitten im Angeſicht, kehrt ſich ſachte um und
entfernt ſich. Man mußte ihm befehlen: geh hin, biet ihm das Haͤndchen. Es geht langſam
thut's kurz, und kehrt ſchnell zuruͤck, und ein Seufzer verrieth zuruͤckgehaltenes Weinen.

— Der
Phyſ. Fragm. I. Verſuch. K
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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/93>, abgerufen am 22.11.2024.