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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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VIII. Fragment.
Kreise, die sein Genius durchflog, zu Bahnen machte, die nun jeder kalte Logiker betreten
und ruhig wandeln kann? Mit welcher Wissenschaft ist's anders? Fängt's je bey der Wis-
senschaft
an? Jsts nicht tausendmal Adlerflug oder Adlerblick, der Jahrhunderten voreilt?
Wie lang währt's, bis dann Wolfe kommen, und zu jeder erfundenen, vorhergefühlten, vor-
hererblickten oder erhaschten Wahrheit -- den Hin- und Herweg finden, betreten, bahnen? --
Welcher der neuern Weisen ist wissenschaftlicher, als Bonnet? Wer verbindet so glücklich
Leibnitzens Genie und Wolfens Kaltblütigkeit und Deutlichkeit? Wer ist mehr Beob-
achter, als Er? Wer unterscheidet mehr das Wahrscheinliche vom Wahren? die Beobachtung
von der Folgerung? Wer führt euch mehr, wer sanfter und anmuthiger an der Hand -- --
aber, wem wird er alle sein vorauseilendes Wahrheitsgefühl, dieß Resultat und diese Quelle
von vielen kleinen unbestimmbaren, schnellen, tiefdringenden Beobachtungen -- wem dieß mit-
theilen, wem in Zeichen, Tönen, Bildern und Regeln auflösen können? -- und ist's anders
mit der Arzneywissenschaft? mit der Gottesgelehrsamkeit? mit welcher Wissenschaft, welcher
Kunst anders? --

Mahlerkunst, die Mutter und Tochter der Physiognomik -- Jst sie nicht Wissen-
schaft,
und wie wenig ist sie's? "Das ist Ebenmaaß, jenes Mißverhältniß -- dieß Natur,
"Wahrheit, Leben, athmende Kraft, jenes Zwang, falschbeleuchtet, unedel, heßlich" -- Das
kannst du sagen, mit Gründen beweisen, die jeder Schüler fassen, behalten und wiedererzäh-
len kann -- aber kannst du mit allen Collegien über Mahlerey -- einem Mahlergenie geben --
so wenig, als durch alle Lehrbücher und Lehrmeister der Schönenwissenschaften -- Dichtergenie
einhauchen? Wie unermeßlich weit fliegt der Mahler, der Dichter, den Gott schafft -- über
alles hinauf, was sich in wörtliche Regeln fassen läßt? Jst aber deswegen, weil sich sein
Großgefühl, seine Blicke und Triebe und Kräfte nicht in Gemeinformen gießen, nicht in Re-
geln bringen lassen, nichts Wissenschaftliches, nichts Bestimmbares in dieser Kunst?

So nun auch in der Physiognomik. Bis auf einen gewissen Grad läßt sich phy-
siognomische Wahrheit bestimmen -- in Zeichen und Worte fassen, mittheilen -- sagen:
"das ist Character hohen Verstandes -- dieser Zug ist der Sanftmuth, dieser dem wilden
"Zorn eigen! So blickt die Verachtung! So die Unschuld! wo dieß Zeichen ist -- da ist

"diese

VIII. Fragment.
Kreiſe, die ſein Genius durchflog, zu Bahnen machte, die nun jeder kalte Logiker betreten
und ruhig wandeln kann? Mit welcher Wiſſenſchaft iſt's anders? Faͤngt's je bey der Wiſ-
ſenſchaft
an? Jſts nicht tauſendmal Adlerflug oder Adlerblick, der Jahrhunderten voreilt?
Wie lang waͤhrt's, bis dann Wolfe kommen, und zu jeder erfundenen, vorhergefuͤhlten, vor-
hererblickten oder erhaſchten Wahrheit — den Hin- und Herweg finden, betreten, bahnen? —
Welcher der neuern Weiſen iſt wiſſenſchaftlicher, als Bonnet? Wer verbindet ſo gluͤcklich
Leibnitzens Genie und Wolfens Kaltbluͤtigkeit und Deutlichkeit? Wer iſt mehr Beob-
achter, als Er? Wer unterſcheidet mehr das Wahrſcheinliche vom Wahren? die Beobachtung
von der Folgerung? Wer fuͤhrt euch mehr, wer ſanfter und anmuthiger an der Hand — —
aber, wem wird er alle ſein vorauseilendes Wahrheitsgefuͤhl, dieß Reſultat und dieſe Quelle
von vielen kleinen unbeſtimmbaren, ſchnellen, tiefdringenden Beobachtungen — wem dieß mit-
theilen, wem in Zeichen, Toͤnen, Bildern und Regeln aufloͤſen koͤnnen? — und iſt's anders
mit der Arzneywiſſenſchaft? mit der Gottesgelehrſamkeit? mit welcher Wiſſenſchaft, welcher
Kunſt anders? —

Mahlerkunſt, die Mutter und Tochter der Phyſiognomik — Jſt ſie nicht Wiſſen-
ſchaft,
und wie wenig iſt ſie's? „Das iſt Ebenmaaß, jenes Mißverhaͤltniß — dieß Natur,
„Wahrheit, Leben, athmende Kraft, jenes Zwang, falſchbeleuchtet, unedel, heßlich“ — Das
kannſt du ſagen, mit Gruͤnden beweiſen, die jeder Schuͤler faſſen, behalten und wiedererzaͤh-
len kann — aber kannſt du mit allen Collegien uͤber Mahlerey — einem Mahlergenie geben —
ſo wenig, als durch alle Lehrbuͤcher und Lehrmeiſter der Schoͤnenwiſſenſchaften — Dichtergenie
einhauchen? Wie unermeßlich weit fliegt der Mahler, der Dichter, den Gott ſchafft — uͤber
alles hinauf, was ſich in woͤrtliche Regeln faſſen laͤßt? Jſt aber deswegen, weil ſich ſein
Großgefuͤhl, ſeine Blicke und Triebe und Kraͤfte nicht in Gemeinformen gießen, nicht in Re-
geln bringen laſſen, nichts Wiſſenſchaftliches, nichts Beſtimmbares in dieſer Kunſt?

So nun auch in der Phyſiognomik. Bis auf einen gewiſſen Grad laͤßt ſich phy-
ſiognomiſche Wahrheit beſtimmen — in Zeichen und Worte faſſen, mittheilen — ſagen:
„das iſt Character hohen Verſtandes — dieſer Zug iſt der Sanftmuth, dieſer dem wilden
„Zorn eigen! So blickt die Verachtung! So die Unſchuld! wo dieß Zeichen iſt — da iſt

„dieſe
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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/78>, abgerufen am 24.11.2024.