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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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VII. Fragment.
die ihm vorgestellt werden? *) -- Welcher Regent erwählt einen Minister, ohne auf sein
Aeußerliches mit ein Auge zu werfen, und ihn darnach, wenigstens zum Theil, wenigstens bey
sich selbst zu beurtheilen? Der Officier wählt keinen Soldaten, ohn' auf sein Aeußerliches --
die Länge nicht gerechnet, mit zu sehen. Welcher Hausvater wählt einen Bedienten, welche
Frau eine Magd, daß ihr Aeußerliches, daß ihre Gesichtsbildung, sie mögen richtig oder un-
richtig urtheilen, mögen sichs bewußt oder unbewußt seyn, -- bey der Wahl nicht mit in An-
schlag komme?

Blos das flüchtige Andenken an die unzähligen vor Augen liegenden Beyspiele, die das
allgemeine stillschweigende Eingeständniß aller Menschen, daß sie ganz von der Physiognomie
geleitet werden, unwidersprechlich bestätigen, ermüdet mich, und Widerwillen ergreift mich,
daß ich, um Gelehrte von Wahrheiten zu überzeugen, Dinge schreiben muß, die jedes Kind
weiß, oder wissen kann.

Wer Augen hat zu sehen, der sehe, wen aber das Licht, nahe vors Gesicht gehalten,
toll macht, der mag mit der Faust drein schlagen, und sich die Finger dran verbrennen. Jch
rede nicht gern diese Sprache; aber ich darf, ich muß dreiste reden, weil ich dessen, was ich
sage und sagen werde, gewiß bin, und weil ich im Stande zu seyn glaube, mich der Ueberzeu-
gung aller redlichen und aufmerksamen Freunde der Wahrheit durch Gründe, die schwerlich zu
widerlegen seyn dürften, bemächtigen zu können, und weil ich es nicht für unwichtig halte, den
muthwilligen Kitzel einiger großen Tongeber zur bescheidenen Zurückhaltung ihrer despotischen Ur-
theile herabzustimmen. Es bleibt also dabey, nicht deswegen, weil ich es sage, sondern, weil's
auffallend wahr ist -- weil's wahr seyn würde, wenn's nicht gesagt würde -- Es bleibt also
dabey, daß die Physiognomie alle Menschen, sie mögen's wissen, oder nicht, täglich leitet --
daß, wie Sulzer sagt, jeder Mensch, er mag's wissen, oder nicht, etwas von der Physiogno-
mik versteht; daß nicht ein lebendiges Wesen ist, welches nicht aus dem Aeußerlichen auf das

Jnnere,
*) Ac mihi quidem cum illa certissima sunt visa
argumenta, atque indicia sceleris, tabellae, signa,
manus, denique vnius cujusque confessio: tum
multo certiora illa, color, oculi, vultus, tacitur-[Spaltenumbruch]
nitas. Sic enim constupuerant, sic terram intueban-
tur, sic furtim nonnunquam inter se conspiciebant, vt
non ab aliis judicari, sed ipsi a se viderentur. Cicero.
Conscientia eminet in vultu. Seneca.

VII. Fragment.
die ihm vorgeſtellt werden? *) — Welcher Regent erwaͤhlt einen Miniſter, ohne auf ſein
Aeußerliches mit ein Auge zu werfen, und ihn darnach, wenigſtens zum Theil, wenigſtens bey
ſich ſelbſt zu beurtheilen? Der Officier waͤhlt keinen Soldaten, ohn' auf ſein Aeußerliches —
die Laͤnge nicht gerechnet, mit zu ſehen. Welcher Hausvater waͤhlt einen Bedienten, welche
Frau eine Magd, daß ihr Aeußerliches, daß ihre Geſichtsbildung, ſie moͤgen richtig oder un-
richtig urtheilen, moͤgen ſichs bewußt oder unbewußt ſeyn, — bey der Wahl nicht mit in An-
ſchlag komme?

Blos das fluͤchtige Andenken an die unzaͤhligen vor Augen liegenden Beyſpiele, die das
allgemeine ſtillſchweigende Eingeſtaͤndniß aller Menſchen, daß ſie ganz von der Phyſiognomie
geleitet werden, unwiderſprechlich beſtaͤtigen, ermuͤdet mich, und Widerwillen ergreift mich,
daß ich, um Gelehrte von Wahrheiten zu uͤberzeugen, Dinge ſchreiben muß, die jedes Kind
weiß, oder wiſſen kann.

Wer Augen hat zu ſehen, der ſehe, wen aber das Licht, nahe vors Geſicht gehalten,
toll macht, der mag mit der Fauſt drein ſchlagen, und ſich die Finger dran verbrennen. Jch
rede nicht gern dieſe Sprache; aber ich darf, ich muß dreiſte reden, weil ich deſſen, was ich
ſage und ſagen werde, gewiß bin, und weil ich im Stande zu ſeyn glaube, mich der Ueberzeu-
gung aller redlichen und aufmerkſamen Freunde der Wahrheit durch Gruͤnde, die ſchwerlich zu
widerlegen ſeyn duͤrften, bemaͤchtigen zu koͤnnen, und weil ich es nicht fuͤr unwichtig halte, den
muthwilligen Kitzel einiger großen Tongeber zur beſcheidenen Zuruͤckhaltung ihrer deſpotiſchen Ur-
theile herabzuſtimmen. Es bleibt alſo dabey, nicht deswegen, weil ich es ſage, ſondern, weil's
auffallend wahr iſt — weil's wahr ſeyn wuͤrde, wenn's nicht geſagt wuͤrde — Es bleibt alſo
dabey, daß die Phyſiognomie alle Menſchen, ſie moͤgen's wiſſen, oder nicht, taͤglich leitet —
daß, wie Sulzer ſagt, jeder Menſch, er mag's wiſſen, oder nicht, etwas von der Phyſiogno-
mik verſteht; daß nicht ein lebendiges Weſen iſt, welches nicht aus dem Aeußerlichen auf das

Jnnere,
*) Ac mihi quidem cum illa certiſſima ſunt viſa
argumenta, atque indicia ſceleris, tabellae, ſigna,
manus, denique vnius cujusque confeſſio: tum
multo certiora illa, color, oculi, vultus, tacitur-[Spaltenumbruch]
nitas. Sic enim conſtupuerant, ſic terram intueban-
tur, ſic furtim nonnunquam inter ſe conſpiciebant, vt
non ab aliis judicari, ſed ipſi a ſe viderentur. Cicero.
Conſcientia eminet in vultu. Seneca.
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[50/0074] VII. Fragment. die ihm vorgeſtellt werden? *) — Welcher Regent erwaͤhlt einen Miniſter, ohne auf ſein Aeußerliches mit ein Auge zu werfen, und ihn darnach, wenigſtens zum Theil, wenigſtens bey ſich ſelbſt zu beurtheilen? Der Officier waͤhlt keinen Soldaten, ohn' auf ſein Aeußerliches — die Laͤnge nicht gerechnet, mit zu ſehen. Welcher Hausvater waͤhlt einen Bedienten, welche Frau eine Magd, daß ihr Aeußerliches, daß ihre Geſichtsbildung, ſie moͤgen richtig oder un- richtig urtheilen, moͤgen ſichs bewußt oder unbewußt ſeyn, — bey der Wahl nicht mit in An- ſchlag komme? Blos das fluͤchtige Andenken an die unzaͤhligen vor Augen liegenden Beyſpiele, die das allgemeine ſtillſchweigende Eingeſtaͤndniß aller Menſchen, daß ſie ganz von der Phyſiognomie geleitet werden, unwiderſprechlich beſtaͤtigen, ermuͤdet mich, und Widerwillen ergreift mich, daß ich, um Gelehrte von Wahrheiten zu uͤberzeugen, Dinge ſchreiben muß, die jedes Kind weiß, oder wiſſen kann. Wer Augen hat zu ſehen, der ſehe, wen aber das Licht, nahe vors Geſicht gehalten, toll macht, der mag mit der Fauſt drein ſchlagen, und ſich die Finger dran verbrennen. Jch rede nicht gern dieſe Sprache; aber ich darf, ich muß dreiſte reden, weil ich deſſen, was ich ſage und ſagen werde, gewiß bin, und weil ich im Stande zu ſeyn glaube, mich der Ueberzeu- gung aller redlichen und aufmerkſamen Freunde der Wahrheit durch Gruͤnde, die ſchwerlich zu widerlegen ſeyn duͤrften, bemaͤchtigen zu koͤnnen, und weil ich es nicht fuͤr unwichtig halte, den muthwilligen Kitzel einiger großen Tongeber zur beſcheidenen Zuruͤckhaltung ihrer deſpotiſchen Ur- theile herabzuſtimmen. Es bleibt alſo dabey, nicht deswegen, weil ich es ſage, ſondern, weil's auffallend wahr iſt — weil's wahr ſeyn wuͤrde, wenn's nicht geſagt wuͤrde — Es bleibt alſo dabey, daß die Phyſiognomie alle Menſchen, ſie moͤgen's wiſſen, oder nicht, taͤglich leitet — daß, wie Sulzer ſagt, jeder Menſch, er mag's wiſſen, oder nicht, etwas von der Phyſiogno- mik verſteht; daß nicht ein lebendiges Weſen iſt, welches nicht aus dem Aeußerlichen auf das Jnnere, *) Ac mihi quidem cum illa certiſſima ſunt viſa argumenta, atque indicia ſceleris, tabellae, ſigna, manus, denique vnius cujusque confeſſio: tum multo certiora illa, color, oculi, vultus, tacitur- nitas. Sic enim conſtupuerant, ſic terram intueban- tur, ſic furtim nonnunquam inter ſe conſpiciebant, vt non ab aliis judicari, ſed ipſi a ſe viderentur. Cicero. Conſcientia eminet in vultu. Seneca.

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/74>, abgerufen am 22.11.2024.