Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.VII. Fragment. seyn, nicht natürlicher Einfluß, nicht unmittelbare wechselseitige Wirkung, wenn gerad in demAugenblicke, da der Verstand tiefblickend, der Witz am geschäfftigsten ist, das Feuer, die Be- wegung oder Stellung der Augen ebenfalls sich am merklichsten verändert? Ein offnes, heiteres, uns gleichsam entgegenkommendes Auge, und ein offnes, heiteres, Jn allem soll die Natur nach Weisheit und Ordnung handeln, allenthalben sollen sich Und das ists, was alle Bestreiter der Wahrheit der Physiognomie im Grunde Sie machen die Wahrheit selbst zur unaufhörlichen Lügnerinn; die ewige Ordnung Der gesunde Menschenverstand empört sich in der That gegen einen Menschen, der be- Der gesunde Menschenverstand empört sich gegen eine Behauptung wie diese: ein star- Behau-
VII. Fragment. ſeyn, nicht natuͤrlicher Einfluß, nicht unmittelbare wechſelſeitige Wirkung, wenn gerad in demAugenblicke, da der Verſtand tiefblickend, der Witz am geſchaͤfftigſten iſt, das Feuer, die Be- wegung oder Stellung der Augen ebenfalls ſich am merklichſten veraͤndert? Ein offnes, heiteres, uns gleichſam entgegenkommendes Auge, und ein offnes, heiteres, Jn allem ſoll die Natur nach Weisheit und Ordnung handeln, allenthalben ſollen ſich Und das iſts, was alle Beſtreiter der Wahrheit der Phyſiognomie im Grunde Sie machen die Wahrheit ſelbſt zur unaufhoͤrlichen Luͤgnerinn; die ewige Ordnung Der geſunde Menſchenverſtand empoͤrt ſich in der That gegen einen Menſchen, der be- Der geſunde Menſchenverſtand empoͤrt ſich gegen eine Behauptung wie dieſe: ein ſtar- Behau-
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0070" n="46"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">VII.</hi><hi rendition="#g">Fragment</hi>.</hi></fw><lb/> ſeyn, nicht natuͤrlicher Einfluß, nicht unmittelbare wechſelſeitige Wirkung, wenn gerad in <hi rendition="#fr">dem</hi><lb/> Augenblicke, da der Verſtand tiefblickend, der Witz am geſchaͤfftigſten iſt, das Feuer, die Be-<lb/> wegung oder Stellung der Augen ebenfalls ſich am merklichſten veraͤndert?</p><lb/> <p>Ein offnes, heiteres, uns gleichſam entgegenkommendes Auge, und ein offnes, heiteres,<lb/> uns entgegen wallendes Herz ſollen ſich bey tauſend Menſchen zufaͤlliger Weiſe beyſammen fin-<lb/> den, und keines des andern Wirkung und Urſache ſeyn?</p><lb/> <p>Jn allem ſoll die Natur nach Weisheit und Ordnung handeln, allenthalben ſollen ſich<lb/> Urſachen und Wirkungen entſprechen — allenthalben ſoll man nichts ſicherer wahrnehmen, als<lb/> dieß unaufhoͤrliche Verhaͤltniß von Wirkungen und Urſachen — Und in dem ſchoͤnſten, edel-<lb/> ſten, was die Natur hervorgebracht hat — ſoll ſie willkuͤhrlich, ohne Ordnung, ohne Geſetze<lb/> handeln? Da, im menſchlichen Angeſichte, dieſem Spiegel der Gottheit, dem herrlichſten aller<lb/> ihrer uns bekannten Werke, — da ſoll nicht Wirkung und Urſache, da nicht Verhaͤltniß<lb/> zwiſchen dem Aeußern und Jnnern, zwiſchen Sichtbarem und Unſichtbarem, zwiſchen Urſach<lb/> und Wirkung ſtatt haben? —</p><lb/> <p>Und das iſts, was alle Beſtreiter der Wahrheit der Phyſiognomie im Grunde<lb/> behaupten.</p><lb/> <p>Sie machen die Wahrheit ſelbſt zur unaufhoͤrlichen Luͤgnerinn; die ewige Ordnung<lb/> zur willkuͤhrlichſten Taſchenſpielerinn, die immer etwas anders zeigt, als ſie ſehen laſſen will.</p><lb/> <p>Der geſunde Menſchenverſtand empoͤrt ſich in der That gegen einen Menſchen, der be-<lb/> haupten kann: daß <hi rendition="#fr">Neuton</hi> und <hi rendition="#fr">Leibnitz</hi> allenfalls ausgeſehen haben koͤnnten, wie ein Menſch<lb/> im Tollhauſe, der keinen feſten Tritt, keinen beobachtenden Blick thun kann; und nicht ver-<lb/> moͤgend iſt, den gemeinſten abſtrakten Satz zu begreifen, oder mit Verſtand auszuſprechen;<lb/> daß der eine von ihnen im Schaͤdel eines Lappen die <hi rendition="#fr">Theodicee</hi> erdacht, und der andere im<lb/> Kopfe eines Labradoriers, der weiter nicht, als auf ſechſe zaͤhlen kann, und was druͤber geht,<lb/> unzaͤhlbar nennt, die Planeten gewogen und den Lichtſtral geſpaltet haͤtte?</p><lb/> <p>Der geſunde Menſchenverſtand empoͤrt ſich gegen eine Behauptung wie dieſe: ein ſtar-<lb/> ker Menſch koͤnn' ausſehen, wie ein ſchwacher; ein vollkommen geſunder, wie ein vollkommen<lb/> ſchwindſuͤchtiger; ein feuriger, wie ein ſanfter und kaltbluͤtiger. Er empoͤrt ſich gegen die<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Behau-</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [46/0070]
VII. Fragment.
ſeyn, nicht natuͤrlicher Einfluß, nicht unmittelbare wechſelſeitige Wirkung, wenn gerad in dem
Augenblicke, da der Verſtand tiefblickend, der Witz am geſchaͤfftigſten iſt, das Feuer, die Be-
wegung oder Stellung der Augen ebenfalls ſich am merklichſten veraͤndert?
Ein offnes, heiteres, uns gleichſam entgegenkommendes Auge, und ein offnes, heiteres,
uns entgegen wallendes Herz ſollen ſich bey tauſend Menſchen zufaͤlliger Weiſe beyſammen fin-
den, und keines des andern Wirkung und Urſache ſeyn?
Jn allem ſoll die Natur nach Weisheit und Ordnung handeln, allenthalben ſollen ſich
Urſachen und Wirkungen entſprechen — allenthalben ſoll man nichts ſicherer wahrnehmen, als
dieß unaufhoͤrliche Verhaͤltniß von Wirkungen und Urſachen — Und in dem ſchoͤnſten, edel-
ſten, was die Natur hervorgebracht hat — ſoll ſie willkuͤhrlich, ohne Ordnung, ohne Geſetze
handeln? Da, im menſchlichen Angeſichte, dieſem Spiegel der Gottheit, dem herrlichſten aller
ihrer uns bekannten Werke, — da ſoll nicht Wirkung und Urſache, da nicht Verhaͤltniß
zwiſchen dem Aeußern und Jnnern, zwiſchen Sichtbarem und Unſichtbarem, zwiſchen Urſach
und Wirkung ſtatt haben? —
Und das iſts, was alle Beſtreiter der Wahrheit der Phyſiognomie im Grunde
behaupten.
Sie machen die Wahrheit ſelbſt zur unaufhoͤrlichen Luͤgnerinn; die ewige Ordnung
zur willkuͤhrlichſten Taſchenſpielerinn, die immer etwas anders zeigt, als ſie ſehen laſſen will.
Der geſunde Menſchenverſtand empoͤrt ſich in der That gegen einen Menſchen, der be-
haupten kann: daß Neuton und Leibnitz allenfalls ausgeſehen haben koͤnnten, wie ein Menſch
im Tollhauſe, der keinen feſten Tritt, keinen beobachtenden Blick thun kann; und nicht ver-
moͤgend iſt, den gemeinſten abſtrakten Satz zu begreifen, oder mit Verſtand auszuſprechen;
daß der eine von ihnen im Schaͤdel eines Lappen die Theodicee erdacht, und der andere im
Kopfe eines Labradoriers, der weiter nicht, als auf ſechſe zaͤhlen kann, und was druͤber geht,
unzaͤhlbar nennt, die Planeten gewogen und den Lichtſtral geſpaltet haͤtte?
Der geſunde Menſchenverſtand empoͤrt ſich gegen eine Behauptung wie dieſe: ein ſtar-
ker Menſch koͤnn' ausſehen, wie ein ſchwacher; ein vollkommen geſunder, wie ein vollkommen
ſchwindſuͤchtiger; ein feuriger, wie ein ſanfter und kaltbluͤtiger. Er empoͤrt ſich gegen die
Behau-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |