Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.VI. Fragment. Von dem Bemerken Jede Unvollkommenheit ist auffallender, als die Vollkommenheiten. Tausend Gutes wird Freylich hat's auch etwas Reizendes, da Unvollkommenheiten zu bemerken, wo der an- Oder ist es nicht viel leichter, tausendmal das Ziel, auf welches du den Pfeil richtest, Jede
VI. Fragment. Von dem Bemerken Jede Unvollkommenheit iſt auffallender, als die Vollkommenheiten. Tauſend Gutes wird Freylich hat's auch etwas Reizendes, da Unvollkommenheiten zu bemerken, wo der an- Oder iſt es nicht viel leichter, tauſendmal das Ziel, auf welches du den Pfeil richteſt, Jede
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VI. Fragment. Von dem Bemerken
Jede Unvollkommenheit iſt auffallender, als die Vollkommenheiten. Tauſend Gutes wird
gemeiniglich an einem Menſchen nicht bemerkt, dahingegen ein einziger Fehler oder Fehltritt leicht
alles wider ihn in Bewegung ſetzen kann.
Freylich hat's auch etwas Reizendes, da Unvollkommenheiten zu bemerken, wo der an-
dere nichts Mangelhaftes; vielleicht gar Vollkommenheiten ſieht — und es iſt fuͤr den Witz eine
ſehr unterhaltende Beſchaͤfftigung — ſich durch Herzehlung und Ausmahlung der Unvollkommenhei-
ten des andern weit weit uͤber ihn wegzuſetzen. Wenn dieß mit einiger Zuverſicht, welche die Miene
der Beſcheidenheit annimmt, geſchieht, ſo kann man ſich dadurch von andern das ſtille Lob erſchlei-
chen: „was das fuͤr ein Menſch ſeyn muß, der mit dieſer Zuverſicht und Beſcheidenheit dieſe Fehler
dadurch von ſich weglehnen darf, daß er ſie ſo aͤußerſt fein — laͤcherlich machen kann.“ Aber ich
geſtehe aufrichtig, daß ich mich vor nichts ſo ſehr, als vor meinem eigenen Herzen fuͤrchten wuͤrde,
wenn ich einen ſtaͤrkern, oder auch nur eben ſo einen ſtarken Hang in mir fuͤhlte, Fehler und Un-
vollkommmenheiten an meinen Nebengeſchoͤpfen aufzuſuchen, als Schoͤnheiten und Vollkommenhei-
ten. Wer nur auf Fehler, oder mehr auf Fehler, oder lieber auf Fehler ausgeht, als auf
Schoͤnheiten und Vollkommenheiten, der wird weder ein guter Phyſiognomiſt, noch ein guter
Menſch werden. Kein guter Menſch; — denn die Guͤte des Menſchen mißt ſich nach
ſeiner Luſt an Schoͤnheit, Freyheit, Vollkommenheit anderer — Willſt du wiſſen, ob
dein Herz boͤſe ſey — frage dich nur: ſuch ich an andern lieber Vollkommenheiten, als Fehler —
oder lieber Fehler, als Vollkommenheiten auf? — Kein guter Phyſiognomiſt, denn er wird das
entgegengeſetzte Eine Schoͤne deswegen nicht finden, weil er tauſend Abweichungen davon wahr-
genommen hat. Da er hingegen, wenn er das Eine Schoͤne gefunden hat, weiß, daß alles,
was nicht dieß eine iſt, Abweichung, Minderſchoͤnheit, Unvollkommenheit, Fehler iſt. Die
Kenntniß Einer Schoͤnheit und Vollkommenheit iſt fuͤr den Phyſiognomiſten unend-
lich wichtiger und fruchtbarer, als die Kenntniß von Millionen Fehlern, aber auch
weit ſchwerer.
Oder iſt es nicht viel leichter, tauſendmal das Ziel, auf welches du den Pfeil richteſt,
nicht zu treffen: als es iſt, das Ziel einmal zu treffen? So viel leichter iſts, Unvollkommenheiten
als Vollkommenheiten zu finden, zu zeichnen, zu beſchreiben und zu entwickeln.
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