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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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Ueber die menschliche Natur.

Wer den Menschen, das würdigste Wesen auf Erden, kennen will -- der muß das
Physische, das an ihm kennen, was von ihm in die Sinne fällt.

Er muß das dreyfache Leben der Menschen wohl unterscheiden -- das animalische, das
intellectuelle, das moralische; oder mit andern Worten, seine Kraft, seine Erkenntniß, seinen
Willen.

Er muß jedes erst einzeln besonders an denen Orten, und in denen Aeußerungen die das
nächste, das unmittelbarste Verhältniß damit haben, untersuchen.

Er muß sodann diese drey Leben in ihrem Zusammenhang, ihrer Vermischung, ihrer Ein-
fachheit, Simultanität, Verwebtheit, oder wie man es nennen will, betrachten. Das heißt --
er muß die Physiognomie des Körpers, der Wirkungskräfte, oder die physiologische; die des
Verstands, der Erkenntnißkräfte, oder die intellectuelle; die des Herzens, der Empfindungs-
kräfte, der Begierden und Leidenschaften, oder die moralische besonders -- und sodann die drey
Character in Einem als ein Ganzes erforschen lernen.

Ob es nun, muß ich abermal fragen, eine lächerliche, eines Naturforschers, eines Wei-
sen, eines Menschen, Christen, oder Theologen unwürdige Beschäfftigung sey, den Menschen,
das Schönste und Göttlichste, was sich uns auf Erden darstellen kann, zu erkennen, und zu erfor-
schen -- und durch die Mittel und Wege, die Merkmaale zu erforschen, durch welche allein er
am nächsten und unmittelbarsten erforscht werden kann -- wird wohl keine Frage mehr seyn?
Jeder, der dieß ins Gelächter ziehen kann, zeigt, daß er nicht die mindeste Kenntniß von seiner
eignen Natur habe, und daß er selbst im höchsten Grade belachenswürdig sey.

[Abbildung]

Sechstes
F 3
Ueber die menſchliche Natur.

Wer den Menſchen, das wuͤrdigſte Weſen auf Erden, kennen will — der muß das
Phyſiſche, das an ihm kennen, was von ihm in die Sinne faͤllt.

Er muß das dreyfache Leben der Menſchen wohl unterſcheiden — das animaliſche, das
intellectuelle, das moraliſche; oder mit andern Worten, ſeine Kraft, ſeine Erkenntniß, ſeinen
Willen.

Er muß jedes erſt einzeln beſonders an denen Orten, und in denen Aeußerungen die das
naͤchſte, das unmittelbarſte Verhaͤltniß damit haben, unterſuchen.

Er muß ſodann dieſe drey Leben in ihrem Zuſammenhang, ihrer Vermiſchung, ihrer Ein-
fachheit, Simultanitaͤt, Verwebtheit, oder wie man es nennen will, betrachten. Das heißt —
er muß die Phyſiognomie des Koͤrpers, der Wirkungskraͤfte, oder die phyſiologiſche; die des
Verſtands, der Erkenntnißkraͤfte, oder die intellectuelle; die des Herzens, der Empfindungs-
kraͤfte, der Begierden und Leidenſchaften, oder die moraliſche beſonders — und ſodann die drey
Character in Einem als ein Ganzes erforſchen lernen.

Ob es nun, muß ich abermal fragen, eine laͤcherliche, eines Naturforſchers, eines Wei-
ſen, eines Menſchen, Chriſten, oder Theologen unwuͤrdige Beſchaͤfftigung ſey, den Menſchen,
das Schoͤnſte und Goͤttlichſte, was ſich uns auf Erden darſtellen kann, zu erkennen, und zu erfor-
ſchen — und durch die Mittel und Wege, die Merkmaale zu erforſchen, durch welche allein er
am naͤchſten und unmittelbarſten erforſcht werden kann — wird wohl keine Frage mehr ſeyn?
Jeder, der dieß ins Gelaͤchter ziehen kann, zeigt, daß er nicht die mindeſte Kenntniß von ſeiner
eignen Natur habe, und daß er ſelbſt im hoͤchſten Grade belachenswuͤrdig ſey.

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Sechſtes
F 3
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[37/0061] Ueber die menſchliche Natur. Wer den Menſchen, das wuͤrdigſte Weſen auf Erden, kennen will — der muß das Phyſiſche, das an ihm kennen, was von ihm in die Sinne faͤllt. Er muß das dreyfache Leben der Menſchen wohl unterſcheiden — das animaliſche, das intellectuelle, das moraliſche; oder mit andern Worten, ſeine Kraft, ſeine Erkenntniß, ſeinen Willen. Er muß jedes erſt einzeln beſonders an denen Orten, und in denen Aeußerungen die das naͤchſte, das unmittelbarſte Verhaͤltniß damit haben, unterſuchen. Er muß ſodann dieſe drey Leben in ihrem Zuſammenhang, ihrer Vermiſchung, ihrer Ein- fachheit, Simultanitaͤt, Verwebtheit, oder wie man es nennen will, betrachten. Das heißt — er muß die Phyſiognomie des Koͤrpers, der Wirkungskraͤfte, oder die phyſiologiſche; die des Verſtands, der Erkenntnißkraͤfte, oder die intellectuelle; die des Herzens, der Empfindungs- kraͤfte, der Begierden und Leidenſchaften, oder die moraliſche beſonders — und ſodann die drey Character in Einem als ein Ganzes erforſchen lernen. Ob es nun, muß ich abermal fragen, eine laͤcherliche, eines Naturforſchers, eines Wei- ſen, eines Menſchen, Chriſten, oder Theologen unwuͤrdige Beſchaͤfftigung ſey, den Menſchen, das Schoͤnſte und Goͤttlichſte, was ſich uns auf Erden darſtellen kann, zu erkennen, und zu erfor- ſchen — und durch die Mittel und Wege, die Merkmaale zu erforſchen, durch welche allein er am naͤchſten und unmittelbarſten erforſcht werden kann — wird wohl keine Frage mehr ſeyn? Jeder, der dieß ins Gelaͤchter ziehen kann, zeigt, daß er nicht die mindeſte Kenntniß von ſeiner eignen Natur habe, und daß er ſelbſt im hoͤchſten Grade belachenswuͤrdig ſey. [Abbildung] Sechſtes F 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/61>, abgerufen am 24.11.2024.