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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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Ueber die menschliche Natur.
"Weise im Haupte," oder: "sie ist nirgends und ist doch" u. s. w. -- und alles ist bloß Vorstel-
"lungskraft in ihr; "sie ist eine einfache Substanz -- folglich hat sie nur -- Eine Kraft, folg-
"lich nur die Vorstellungskraft, folglich ist moralisch Gefühl und körperliche Wirksamkeit nichts
"als leidsame Vorstellungskraft -- folglich ist alles im Menschen nur Gedanke" -- Jch will
auch noch ein Folglich beysetzen, und folglich, antwort' ich -- sind alle deine Schlüsse falsch,
weil sie die unmittelbare tägliche Empfindung und Erfahrung aller Menschen umstoßen. --

Dreyfach also, sag' ich, ist das Leben der Menschen, und jedes dieser Leben ist von dem
andern abhängig und unabhängig. Man kann animalisch leben, animalisch gesund, und mora-
lisch krank oder todt, moralisch gesund und lebendig, und physisch krank seyn -- Man kann sehr
scharfsinnnige Schlüsse machen, und moralisch und physisch krank seyn. Die wirkliche Verschieden-
heit dieser Leben erhellet nirgends her mehr, als aus der Verschiedenheit der Nahrung, die sie zu
ihrer Unterhaltung bedürfen. Erkenntniß, Wahrheit, Wissenschaft in Worten und symbolischen
Zeichen ist Nahrung für das Leben des Verstandes; rührende Beyspiele, sinnliche Darstellung
der Bedürfnisse anderer, und entsprechender Hülfsbegierde und Hülfskraft, Nahrung für das
Herz; Speise und Trank, oder -- Fleisch und Blut anderer organischer Körper, die Nahrung
für das physische Leben. Man kann einen Thoren mit Brod und Wein nicht zu einem Weisen
machen; alle mathematische Demonstrationen werden das moralische Gefühl nicht beleben; und
alles Moralisiren wird uns nicht beym Leben und bey Kräften erhalten. --

Die Verschiedenheit, und wenn ich so sagen darf, die Dreyfachheit des Lebens im Men-
schen ist also offenbar. So dreyfach indeß das menschliche Leben ist, so ist es dennoch im Grunde
nur Eines. Eben dasselbe einzige Jch denkt im Kopfe, empfindet im Herzen, leidet und handelt
durch die Sinne. Jeder Zweig dieses Lebens rührt von Einem Geiste her -- Und damit ich
wieder auf die Hauptsache einlenke, -- jede Art des Lebens haftet in körperlichen Organen. Es
ist uns kein Leben in der ganzen Natur bekannt, das nicht in einem organischen Körper hafte;
nicht nach der Verschiedenheit dieses organischen Körpers verschieden sey, nicht mit demselben ent-
stehe, und mit demselben zu Grunde gehe. Und so ist es auch mit dem intellectuellen, moralischen
und animalischen Leben der Menschen. Jedes hat sein körperliches Organum. Jedes ist nach der
Verschiedenheit dieses Organons verschieden. Jedes entsteht und vergeht mit dem ihm angewiese-

nen
F 2

Ueber die menſchliche Natur.
„Weiſe im Haupte,“ oder: „ſie iſt nirgends und iſt doch“ u. ſ. w. — und alles iſt bloß Vorſtel-
„lungskraft in ihr; „ſie iſt eine einfache Subſtanz — folglich hat ſie nur — Eine Kraft, folg-
„lich nur die Vorſtellungskraft, folglich iſt moraliſch Gefuͤhl und koͤrperliche Wirkſamkeit nichts
„als leidſame Vorſtellungskraft — folglich iſt alles im Menſchen nur Gedanke“ — Jch will
auch noch ein Folglich beyſetzen, und folglich, antwort' ich — ſind alle deine Schluͤſſe falſch,
weil ſie die unmittelbare taͤgliche Empfindung und Erfahrung aller Menſchen umſtoßen. —

Dreyfach alſo, ſag' ich, iſt das Leben der Menſchen, und jedes dieſer Leben iſt von dem
andern abhaͤngig und unabhaͤngig. Man kann animaliſch leben, animaliſch geſund, und mora-
liſch krank oder todt, moraliſch geſund und lebendig, und phyſiſch krank ſeyn — Man kann ſehr
ſcharfſinnnige Schluͤſſe machen, und moraliſch und phyſiſch krank ſeyn. Die wirkliche Verſchieden-
heit dieſer Leben erhellet nirgends her mehr, als aus der Verſchiedenheit der Nahrung, die ſie zu
ihrer Unterhaltung beduͤrfen. Erkenntniß, Wahrheit, Wiſſenſchaft in Worten und ſymboliſchen
Zeichen iſt Nahrung fuͤr das Leben des Verſtandes; ruͤhrende Beyſpiele, ſinnliche Darſtellung
der Beduͤrfniſſe anderer, und entſprechender Huͤlfsbegierde und Huͤlfskraft, Nahrung fuͤr das
Herz; Speiſe und Trank, oder — Fleiſch und Blut anderer organiſcher Koͤrper, die Nahrung
fuͤr das phyſiſche Leben. Man kann einen Thoren mit Brod und Wein nicht zu einem Weiſen
machen; alle mathematiſche Demonſtrationen werden das moraliſche Gefuͤhl nicht beleben; und
alles Moraliſiren wird uns nicht beym Leben und bey Kraͤften erhalten. —

Die Verſchiedenheit, und wenn ich ſo ſagen darf, die Dreyfachheit des Lebens im Men-
ſchen iſt alſo offenbar. So dreyfach indeß das menſchliche Leben iſt, ſo iſt es dennoch im Grunde
nur Eines. Eben daſſelbe einzige Jch denkt im Kopfe, empfindet im Herzen, leidet und handelt
durch die Sinne. Jeder Zweig dieſes Lebens ruͤhrt von Einem Geiſte her — Und damit ich
wieder auf die Hauptſache einlenke, — jede Art des Lebens haftet in koͤrperlichen Organen. Es
iſt uns kein Leben in der ganzen Natur bekannt, das nicht in einem organiſchen Koͤrper hafte;
nicht nach der Verſchiedenheit dieſes organiſchen Koͤrpers verſchieden ſey, nicht mit demſelben ent-
ſtehe, und mit demſelben zu Grunde gehe. Und ſo iſt es auch mit dem intellectuellen, moraliſchen
und animaliſchen Leben der Menſchen. Jedes hat ſein koͤrperliches Organum. Jedes iſt nach der
Verſchiedenheit dieſes Organons verſchieden. Jedes entſteht und vergeht mit dem ihm angewieſe-

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[35/0059] Ueber die menſchliche Natur. „Weiſe im Haupte,“ oder: „ſie iſt nirgends und iſt doch“ u. ſ. w. — und alles iſt bloß Vorſtel- „lungskraft in ihr; „ſie iſt eine einfache Subſtanz — folglich hat ſie nur — Eine Kraft, folg- „lich nur die Vorſtellungskraft, folglich iſt moraliſch Gefuͤhl und koͤrperliche Wirkſamkeit nichts „als leidſame Vorſtellungskraft — folglich iſt alles im Menſchen nur Gedanke“ — Jch will auch noch ein Folglich beyſetzen, und folglich, antwort' ich — ſind alle deine Schluͤſſe falſch, weil ſie die unmittelbare taͤgliche Empfindung und Erfahrung aller Menſchen umſtoßen. — Dreyfach alſo, ſag' ich, iſt das Leben der Menſchen, und jedes dieſer Leben iſt von dem andern abhaͤngig und unabhaͤngig. Man kann animaliſch leben, animaliſch geſund, und mora- liſch krank oder todt, moraliſch geſund und lebendig, und phyſiſch krank ſeyn — Man kann ſehr ſcharfſinnnige Schluͤſſe machen, und moraliſch und phyſiſch krank ſeyn. Die wirkliche Verſchieden- heit dieſer Leben erhellet nirgends her mehr, als aus der Verſchiedenheit der Nahrung, die ſie zu ihrer Unterhaltung beduͤrfen. Erkenntniß, Wahrheit, Wiſſenſchaft in Worten und ſymboliſchen Zeichen iſt Nahrung fuͤr das Leben des Verſtandes; ruͤhrende Beyſpiele, ſinnliche Darſtellung der Beduͤrfniſſe anderer, und entſprechender Huͤlfsbegierde und Huͤlfskraft, Nahrung fuͤr das Herz; Speiſe und Trank, oder — Fleiſch und Blut anderer organiſcher Koͤrper, die Nahrung fuͤr das phyſiſche Leben. Man kann einen Thoren mit Brod und Wein nicht zu einem Weiſen machen; alle mathematiſche Demonſtrationen werden das moraliſche Gefuͤhl nicht beleben; und alles Moraliſiren wird uns nicht beym Leben und bey Kraͤften erhalten. — Die Verſchiedenheit, und wenn ich ſo ſagen darf, die Dreyfachheit des Lebens im Men- ſchen iſt alſo offenbar. So dreyfach indeß das menſchliche Leben iſt, ſo iſt es dennoch im Grunde nur Eines. Eben daſſelbe einzige Jch denkt im Kopfe, empfindet im Herzen, leidet und handelt durch die Sinne. Jeder Zweig dieſes Lebens ruͤhrt von Einem Geiſte her — Und damit ich wieder auf die Hauptſache einlenke, — jede Art des Lebens haftet in koͤrperlichen Organen. Es iſt uns kein Leben in der ganzen Natur bekannt, das nicht in einem organiſchen Koͤrper hafte; nicht nach der Verſchiedenheit dieſes organiſchen Koͤrpers verſchieden ſey, nicht mit demſelben ent- ſtehe, und mit demſelben zu Grunde gehe. Und ſo iſt es auch mit dem intellectuellen, moraliſchen und animaliſchen Leben der Menſchen. Jedes hat ſein koͤrperliches Organum. Jedes iſt nach der Verſchiedenheit dieſes Organons verſchieden. Jedes entſteht und vergeht mit dem ihm angewieſe- nen F 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/59>, abgerufen am 24.11.2024.