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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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V. Fragment.
Eins; aber es läßt sich dennoch nicht nur in Gedanken unterscheiden, sondern es ist wirklich in
dem Menschen selbst verschieden. So verschieden, als ein Glied vom andern ist. Jedes dieser
Leben hat seinen eigenthümlichen Sitz, seine besondern Werkzeuge und Vehikuln. Keine Sache
in der Welt ist gewisser, und keine scheint mehrerm Streit ausgesetzt, oder weniger ausdrück-
lich zugestanden zu seyn, als diese. Eine gewisse, -- wills Gott -- ihrem Untergang nahe
Afterphilosophie, die Feindinn der Natur -- die alles sahe, was -- nicht war, und nur das
nicht, was war; -- die viel zu stolz war, den gemeinen Menschenverstand auf das anzuwen-
den, was in die Sinne fiel, und lieber Systeme baute, mit denen weder die Sinne noch die
Erfahrung zu thun hatte -- Diese Afterphilosophie, sag' ich -- hat uns uns selbst und unsern
natürlichen Wahrnehmungen und Empfindungen so weit entführt, daß wir kaum glauben zu
sehen, was wir sehen, und zu empfinden, was wir empfinden. Wenn uns diese Philosophie
nicht blendet -- wenn wir bloße Beobachter unserer Natur sind, so werden wir finden, daß der
Sitz der Denkenskraft in unserm Haupte und zwar innerhalb der Stirne, der Sitz der Begier-
de, des Verlangens, mithin des Willens im Herzen, und der Sitz unserer Kraft im ganzen Kör-
per und vornehmlich in der Hand und im Mund ist. Noch kein gesunder vernünftiger Mensch
hat behaupten dürfen, daß das moralische Gefühl seinen Sitz im Haupte, und der Verstand im
Herzen habe, oder, daß wir mit dem Verstand und Herzen ohne Körper, wirken, das ist, aus-
ser uns Veränderungen hervorbringen können -- und dennoch, so abgeschmackt es wäre, so etwas
zu behaupten, so getraut sich dennoch beynahe niemand, dem andern ausdrücklich zu gestehen:
mein denkendes Jch ist im Kopfe; mein empfindsames, begehrendes, wollendes oder moralisches
Jch im Herzen; mein wirkendes Jch im ganzen Körper, besonders im Munde und in der Hand;
mithin ist das, was man meine Seele, den unsichtbaren, herrschenden, belebenden Theil meiner
Natur nennt -- im ganzen Körper; sondern man will, weils einmal eine gewisse Modephilo-
sophie so will, lieber behaupten -- trotz aller Unmöglichkeit, es zu beweisen, trotz aller widerspre-
chenden Erfahrungen -- behaupten; "meine Seele ist eine einfache Substanz, (dieß behauptet
ein unbekannter, sonst sehr verdienstvoller Schriftsteller) ist, "so wie eine Stunde, nicht in mei-
"nem Körper -- und nicht außer demselben -- und dennoch etwas Wirkliches" -- oder: "Sie
"hat ihren Sitz in irgend einem atomischen Punkte des Körpers -- und zwar ausschließender

"Weise

V. Fragment.
Eins; aber es laͤßt ſich dennoch nicht nur in Gedanken unterſcheiden, ſondern es iſt wirklich in
dem Menſchen ſelbſt verſchieden. So verſchieden, als ein Glied vom andern iſt. Jedes dieſer
Leben hat ſeinen eigenthuͤmlichen Sitz, ſeine beſondern Werkzeuge und Vehikuln. Keine Sache
in der Welt iſt gewiſſer, und keine ſcheint mehrerm Streit ausgeſetzt, oder weniger ausdruͤck-
lich zugeſtanden zu ſeyn, als dieſe. Eine gewiſſe, — wills Gott — ihrem Untergang nahe
Afterphiloſophie, die Feindinn der Natur — die alles ſahe, was — nicht war, und nur das
nicht, was war; — die viel zu ſtolz war, den gemeinen Menſchenverſtand auf das anzuwen-
den, was in die Sinne fiel, und lieber Syſteme baute, mit denen weder die Sinne noch die
Erfahrung zu thun hatte — Dieſe Afterphiloſophie, ſag' ich — hat uns uns ſelbſt und unſern
natuͤrlichen Wahrnehmungen und Empfindungen ſo weit entfuͤhrt, daß wir kaum glauben zu
ſehen, was wir ſehen, und zu empfinden, was wir empfinden. Wenn uns dieſe Philoſophie
nicht blendet — wenn wir bloße Beobachter unſerer Natur ſind, ſo werden wir finden, daß der
Sitz der Denkenskraft in unſerm Haupte und zwar innerhalb der Stirne, der Sitz der Begier-
de, des Verlangens, mithin des Willens im Herzen, und der Sitz unſerer Kraft im ganzen Koͤr-
per und vornehmlich in der Hand und im Mund iſt. Noch kein geſunder vernuͤnftiger Menſch
hat behaupten duͤrfen, daß das moraliſche Gefuͤhl ſeinen Sitz im Haupte, und der Verſtand im
Herzen habe, oder, daß wir mit dem Verſtand und Herzen ohne Koͤrper, wirken, das iſt, auſ-
ſer uns Veraͤnderungen hervorbringen koͤnnen — und dennoch, ſo abgeſchmackt es waͤre, ſo etwas
zu behaupten, ſo getraut ſich dennoch beynahe niemand, dem andern ausdruͤcklich zu geſtehen:
mein denkendes Jch iſt im Kopfe; mein empfindſames, begehrendes, wollendes oder moraliſches
Jch im Herzen; mein wirkendes Jch im ganzen Koͤrper, beſonders im Munde und in der Hand;
mithin iſt das, was man meine Seele, den unſichtbaren, herrſchenden, belebenden Theil meiner
Natur nennt — im ganzen Koͤrper; ſondern man will, weils einmal eine gewiſſe Modephilo-
ſophie ſo will, lieber behaupten — trotz aller Unmoͤglichkeit, es zu beweiſen, trotz aller widerſpre-
chenden Erfahrungen — behaupten; „meine Seele iſt eine einfache Subſtanz, (dieß behauptet
ein unbekannter, ſonſt ſehr verdienſtvoller Schriftſteller) iſt, „ſo wie eine Stunde, nicht in mei-
„nem Koͤrper — und nicht außer demſelben — und dennoch etwas Wirkliches“ — oder: „Sie
„hat ihren Sitz in irgend einem atomiſchen Punkte des Koͤrpers — und zwar ausſchließender

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[34/0058] V. Fragment. Eins; aber es laͤßt ſich dennoch nicht nur in Gedanken unterſcheiden, ſondern es iſt wirklich in dem Menſchen ſelbſt verſchieden. So verſchieden, als ein Glied vom andern iſt. Jedes dieſer Leben hat ſeinen eigenthuͤmlichen Sitz, ſeine beſondern Werkzeuge und Vehikuln. Keine Sache in der Welt iſt gewiſſer, und keine ſcheint mehrerm Streit ausgeſetzt, oder weniger ausdruͤck- lich zugeſtanden zu ſeyn, als dieſe. Eine gewiſſe, — wills Gott — ihrem Untergang nahe Afterphiloſophie, die Feindinn der Natur — die alles ſahe, was — nicht war, und nur das nicht, was war; — die viel zu ſtolz war, den gemeinen Menſchenverſtand auf das anzuwen- den, was in die Sinne fiel, und lieber Syſteme baute, mit denen weder die Sinne noch die Erfahrung zu thun hatte — Dieſe Afterphiloſophie, ſag' ich — hat uns uns ſelbſt und unſern natuͤrlichen Wahrnehmungen und Empfindungen ſo weit entfuͤhrt, daß wir kaum glauben zu ſehen, was wir ſehen, und zu empfinden, was wir empfinden. Wenn uns dieſe Philoſophie nicht blendet — wenn wir bloße Beobachter unſerer Natur ſind, ſo werden wir finden, daß der Sitz der Denkenskraft in unſerm Haupte und zwar innerhalb der Stirne, der Sitz der Begier- de, des Verlangens, mithin des Willens im Herzen, und der Sitz unſerer Kraft im ganzen Koͤr- per und vornehmlich in der Hand und im Mund iſt. Noch kein geſunder vernuͤnftiger Menſch hat behaupten duͤrfen, daß das moraliſche Gefuͤhl ſeinen Sitz im Haupte, und der Verſtand im Herzen habe, oder, daß wir mit dem Verſtand und Herzen ohne Koͤrper, wirken, das iſt, auſ- ſer uns Veraͤnderungen hervorbringen koͤnnen — und dennoch, ſo abgeſchmackt es waͤre, ſo etwas zu behaupten, ſo getraut ſich dennoch beynahe niemand, dem andern ausdruͤcklich zu geſtehen: mein denkendes Jch iſt im Kopfe; mein empfindſames, begehrendes, wollendes oder moraliſches Jch im Herzen; mein wirkendes Jch im ganzen Koͤrper, beſonders im Munde und in der Hand; mithin iſt das, was man meine Seele, den unſichtbaren, herrſchenden, belebenden Theil meiner Natur nennt — im ganzen Koͤrper; ſondern man will, weils einmal eine gewiſſe Modephilo- ſophie ſo will, lieber behaupten — trotz aller Unmoͤglichkeit, es zu beweiſen, trotz aller widerſpre- chenden Erfahrungen — behaupten; „meine Seele iſt eine einfache Subſtanz, (dieß behauptet ein unbekannter, ſonſt ſehr verdienſtvoller Schriftſteller) iſt, „ſo wie eine Stunde, nicht in mei- „nem Koͤrper — und nicht außer demſelben — und dennoch etwas Wirkliches“ — oder: „Sie „hat ihren Sitz in irgend einem atomiſchen Punkte des Koͤrpers — und zwar ausſchließender „Weiſe

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/58>, abgerufen am 22.11.2024.