Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.XVII. Fragment. Physiognomische Uebungen Wenn ich's versuche, auch eine Copie zu skitziren, unvermerkt kommen mir eben die Züge, So oft ich bey Kleinjogg war, so oft rufte seine Gegenwart und seine Wirksamkeit in Diese ganze wahre Menschengestalt vor mir! der ganze Mensch Bauer! der ganze Bauer -- Und *) Hirzel. S. 147. **) S. 263. ***) S. 151. der neuesten Ausgabe.
XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen Wenn ich's verſuche, auch eine Copie zu ſkitziren, unvermerkt kommen mir eben die Zuͤge, So oft ich bey Kleinjogg war, ſo oft rufte ſeine Gegenwart und ſeine Wirkſamkeit in Dieſe ganze wahre Menſchengeſtalt vor mir! der ganze Menſch Bauer! der ganze Bauer — Und *) Hirzel. S. 147. **) S. 263. ***) S. 151. der neueſten Ausgabe.
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XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
Wenn ich's verſuche, auch eine Copie zu ſkitziren, unvermerkt kommen mir eben die Zuͤge,
die Ausdruͤcke alle nach einander wieder, womit ſein wuͤrdiger Biograph ihn zeichnete — und den-
noch will auch ich einen Verſuch wagen.
So oft ich bey Kleinjogg war, ſo oft rufte ſeine Gegenwart und ſeine Wirkſamkeit in
mir eine Art von Gefuͤhl auf, das noch in keines Menſchen Gegenwart in meinem Herzen rege
wurde! Nicht ein warmes enthuſiaſtiſches Gefuͤhl! Es war, wie wenn ein dunkles Menſchenideal
in meiner Seele lebendig — und beleuchtet werden wollte! So was Einfaches, Zartes, Unaus-
druͤckbares regte ſich ſanft in mir. Es war nicht Ehrfurcht, nicht Liebe, nicht Freundſchaft. Es
war eine ſtille Erweiterung meiner Seele! Ein ſanftes Ahnden der unverdorbenen Menſchheit,
die vor mir ſtuͤnde.
Dieſe ganze wahre Menſchengeſtalt vor mir! der ganze Menſch Bauer! der ganze Bauer —
Menſch! — So ohne Sorgen! ohne Anſtrengung! ohne Plan! Ein Licht ohne Blendung!
Waͤrme ohne Hitze! So inniges Gefuͤhl ſeiner ſelbſt — ohne Selbſtſucht! Solch ein Glaube an
ſich ohne Stolz! Nicht glaͤnzender, nicht tiefer Verſtand, aber — ſo geſund, ſo unanſteckbar vom
Hauche des Vorurtheils. So unbeſtechlich — ſo durch keine Labyrinthe verfuͤhrbar! Jmmer in
Arbeit und Ruhe! Voll edler Betriebſamkeit und einfaͤltiger Gelaſſenheit! So immer in ſeinem
Kreiſe! So eine Sonne in ſeiner Welt! So ſchoͤn in ſeiner Thaͤtigkeit! Jn ſeiner Unangeſtrengt-
heit, ſeiner Offenheit ſo herrlich! So ſeine ganze Seele herausgebend! und ohn' es zu fuͤhlen, ohne
daran zn denken, daß er giebt! So treffend alles, was er ſagt — Jmmer Gold und Erdenklos!
oft Diamante aufm Miſt! Jmmer ſo ein Ganzes! Alles ſo fließend aus ſeiner Ganzheit! ſo ruͤck-
fließend in ſie! daß Gemeinſte, das Trivialſte, was er ſagt, wie iſts in ihm, und aus ihm! Wie
hat's das Gepraͤge ſeiner Jndividualitaͤt! — Was ich ihm immer, und wenn auch noch ſo getreu,
nacherzaͤhlte, wie war's nie das, was ich erzaͤhlen wollte! Jmmer Schaum, abgeſchoͤpft von der
ſprudelnden Quelle! Koͤrper ohne Seele! Alltagsgeſchwaͤtze — was in ihm ſo ruhiges Anſchaun,
ſo — uugelerntes, unnachgeſprochnes Urgefuͤhl iſt! — — Wie iſt er mir ſo ſichrer Thermometer
des Verſtandes, der Redlichkeit, des Menſchengefuͤhles, aller derer, die mit ihm umgehen! *)
Wie iſt er mir ſo ſehr — Statthalter der ſchoͤpfenden Gottheit! **) und wie vollkommen
wahr iſt's, und was laͤßt ſich Ganzeres, Vollſtaͤndigeres von Kleinjogg, und was mehr von ei-
nem Menſchen ſagen, als: „denken, reden und handeln ſind bey ihm immer in der groͤßten Har-
„monie.“ ***). Ein Zug der alles zeichnet und Meiſterhand verraͤth.
Und
*) Hirzel. S. 147.
**) S. 263.
***) S. 151. der neueſten Ausgabe.
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